Marie Jalowicz kam 1922 zur Welt, der Vater war Anwalt, die Mutter half in der Praxis mit. Was Maries Schicksal so außergewöhnlich macht, ist ihr Leben und Überleben als Jüdin im Zweiten Weltkrieg. Sie war seit Juni 1942 in Berlin „untergetaucht“. Ihre Erinnerungen sprach sie in ihrem letzten Lebensjahr 1987/88 ihrem Sohn Hermann Simon auf Kassetten. Aus dem so entstandenen Textkonvolut erarbeitete die Autorin Irene Stratenwerth einen weniger als halb so langen Text, der hier vorliegt. Es ist ein außerordentliches Dokument, erinnerte sich die in der Nachkriegszeit als Professorin an der Humboldt-Universität in Berlin lehrende Professorin Marie Jalowicz doch sehr klar und geordnet. Der Sohn Hermann steuert nützliche Verifizierungen bei.
Noch in der Druckfassung klingt eine schnoddrige bis lakonische, aber präzise Erzählweise an. Marie schildert, wie sie sich zunächst als Zwangsarbeiterin bei Siemens an unauffälliger Sabotage beteiligte. Als bewusste Jüdin handelte sie gegen ihre Diskriminierung, gegen die Nazis und setzte zunehmend nur noch auf Überleben im Krieg. Der nüchterne Bericht über den dauernden Überlebenskampf mit der Frage, wo sie als Nächstes und wie lange unterkommen konnte, aber auch der Alltag und die Lebensfreude in diesem eingeschränkten Kosmos bieten eine eindrucksvolle Lektüre.
„Für mich hatte es in einer scheußlichen Vereinfachung jahrelang nur Freund oder Feind gegeben“, erklärte Jalowicz später. Hinzu kommt: In dieser lebensnotwendigen Schläue der Anpassung, der Ausreden und der Lügen spielte nicht nur latente, sondern manifeste Gewalt eine Rolle. Dies ging bis zu sexueller Ausbeutung durch Personen von beiden Seiten der Freund- Feind-Linie, wovon Jalowicz auch eher lakonisch berichtet. Von rührenden Freundschaften und von der Unterstützung durch Nicht-Juden, aber auch menschlichen Unverträglichkeiten wird erzählt.
Dies betrifft vor allem die Beziehung zu der deutlich älteren Hanna Koch, die Marie Jalowicz sogar ihre Identität für falsche Papiere lieh, mit denen Marie (mit einem Gefährten) zeitweilig bis nach Bulgarien kam; Hanna, die der Bedrängten immer wieder Lebensmittel zukommen ließ, die Marie ihrerseits aber dennoch immer weniger ausstehen konnte.
Deutlich werden somit auch nachträglich die manifesten psychischen Spannungen in Maries Leben als Untergetauchte, das aber genauso normale Freude kannte. Notsituationen um eine neue Bleibe, um Nahrung, aber auch intellektuelle Ansprüche wie Lesen, das gerade in schlichterer Umgebung keinen Argwohn wecken durfte, kamen hinzu. Das sind nur wenige Streiflichter aus einem ungemein reichen Selbstzeugnis, wie es nicht viele gibt. Ein berührendes Buch, dem viele Leser zu wünschen sind.
Rezension: Prof. Dr. Jost Dülffer