Für die Nachgeborenen ist es immer wieder unbegreiflich, wie der NS-Staat bis zur Kapitulation im Mai 1945 so weit wie möglich weiterarbeitete. Die letzte Verordnung erging am 11. April 1945 und wurde noch im Reichsgesetzblatt verkündet. Damals waren Aachen, Köln und Königsberg bereits erobert. Gerichte arbeiteten weiter, sofern das unter den Kriegsbedingungen und bei zunehmenden Gebietsverlusten noch möglich war. Der Staatsapparat stellte seine Tätigkeit nach der Kapitulation vorerst ein, begann dann aber bald wieder unter alliierter Oberaufsicht mit der Arbeit.
Eine „Stunde null“, die nach dem Krieg oftmals beschrieben und von vielen geradezu beschworen wurde, gab es nicht. Der Zusammenbruch des NS-Regimes beendete nicht zwangsläufig Berufswege. Gerade für den Staatsdienst und hier insbesondere für Gerichte und Staatsanwaltschaften lässt sich eine erstaunliche personelle Kontinuität erkennen. Benjamin Lahusen zeigt in einem lesenswerten Buch, wie zum einen im NS-Regime bis zu dessen Ende das Bild einer funktionsfähigen Justiz aufrechterhalten wurde und wie es zum anderen viele Richter und Staatsanwälte schafften, auch unter neuen, demokratischen Vorzeichen ihrem Beruf nachzugehen.
Der „Stillstand der Rechtspflege“ („Justitium“) wurde mit allen Mitteln vermieden. Nur in Rostock, dessen Oberlandesgerichtsgebäude samt Inventar und Akten im April 1942 durch Bombenangriffe restlos zerstört wurde, gab es eine kurzzeitige Unterbrechung der Dienstgeschäfte. Danach und an allen anderen Orten beeilten sich die Gerichtspräsidenten, den Dienstbetrieb im Straf- und im Zivilrecht aufrechtzuerhalten und dies eilfertig dem Reichsjustizministerium in Berlin zu melden. Die gefürchteten Sondergerichte urteilten bis zur Kapitulation und verhängten drakonische Strafen für kleinste Vergehen wie das Abhören „feindlicher Sender“ oder Betrug mit Bezugskarten. „Standgerichte“ ließen Deserteure hinrichten. Wenn Gebäude zu stark beschädigt waren oder die Front näherrückte, wurden Gerichte oder Teile der Justizverwaltung mitsamt dem Personal und den riesigen Aktenbeständen an andere Orte verlagert. Lahusen zeigt eindrücklich, welche Blüten der Versuch trieb, Normalität auch unter Kriegsbedingungen vorzugaukeln.
Anhand des Beispiels des Richters Hans Keutgen beschreibt Lahusen nicht nur typische Juristenkarrieren im „Dritten Reich“ und danach, sondern auch den skurrilen Umgang mit der Situation: Nach der Eroberung Aachens wurde das dortige Sondergericht immer weiter nach Osten verlagert, bis es schließlich in Ichtershausen in Thüringen unterkam. Sogar Strafgefangene wurden
zu anderen Gefängnissen verschickt. Bedrückend sind nicht nur diese Schilderungen, sondern auch die Beschreibungen, wie juristische Karrieren nach dem Zusammenbruch fortgesetzt wurden. Das Buch zeigt, wohin es führt, wenn Recht und Justiz nur noch dem Namen nach bestehen. Eine wichtige Lektüre.
Rezension: Prof. Dr. Philipp Austermann
Benjamin Lahusen
„Der Dienstbetrieb ist nicht gestört“
Die Deutschen und ihre Justiz 1943–1948
Verlag C. H. Beck, München 2022, 384 Seiten, € 34,–