Das von dem jüdischen Historiker Bruno Gebhardt herausgegebene und erstmals 1891/92 erschienene „Handbuch der deutschen Geschichte“ ist immer wieder überarbeitet, erweitert und neu aufgelegt worden. Zwischen 1970 und 1973 ist die neunte Auflage erschienen. Für diese ist der vierte Band der letzten Auflage, „Das Zeitalter der Weltkriege“, auf zwei Teilbände erweitert worden, von denen sich der zweite auf „Deutschland unter der Herrschaft des Nationalsozialismus“, den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit bezog.
Seit 2001 erscheint eine grundlegend neu bearbeitete zehnte Auflage, in der die Zeit des Nationalsozialismus auf drei Bände erweitert ist. Dieter Pohl, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Klagenfurt, hat in dem nun erschienenen Band minutiös die nationalsozialistischen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges dargestellt. Nach einer Rekapitulation zur Vorgeschichte, der Herausbildung der nationalsozialistischen „Diktatur der Gewalt“ und den verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen von 1933 bis 1939 einschließlich der Morde an psychisch Kranken geht Pohl in den folgenden Abschnitten der Zeit des Weltkrieges nach, zunächst den Verbrechen in dem vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Polen einschließlich der hier verübten Kindermorde, sodann der während des deutschen Vernichtungskrieges in der Sowjetunion verschärften mörderischen Gewalt. Das umfangreichste Kapitel analysiert den Massenmord an den Juden in Europa. Ein eigenes Kapitel ist den Verbrechen an den europäischen Sinti und Roma gewidmet.
Nach den Umsiedlungsprojekten in Osteuropa, der Zwangsarbeit, dem Wirken der politischen Justiz sowie den Verbrechen bei der Bekämpfung von Partisanen geht Pohl der Radikalisierung der Gewaltpolitik im Deutschen Reich selbst gegenüber der jüdischen Bevölkerung, psychisch Erkrankten, Homosexuellen und den Zeugen Jehovas nach. Soweit es sich ermitteln lässt, gibt er präzise Zahlen der Ermordeten an und nennt die am Töten beteiligten politischen und militärischen Verbände. Im zweiten, kürzeren, systematisch angelegten Teil analysiert Pohl in Anlehnung an die Unterscheidung von Raul Hilberg die Opfer, Täter und das Umfeld der nationalsozialistischen Verbrechen.
Wie dringend geboten eine grundlegende Neufassung des Gebhardt-Handbuches war, zeigt sich besonders in diesem Band. Waren in dem das „Dritte Reich“ und den Zweiten Weltkrieg behandelnden Band der neunten Auflage jeweils nur wenige Seiten dem nationalsozialistischen Antisemitismus und der „Judenvernichtung“ gewidmet, stehen diese Themen nun im Mittelpunkt eines eigenen Bandes. Dabei war es zudem unabdingbar, den gesamten, vom nationalsozialistischen Deutschland beherrschten Raum und auch die im Zweiten Weltkrieg mit Deutschland verbundenen Staaten in die Darstellung einzubeziehen. Mit wissenschaftlicher Präzision und klarer, nüchterner Sprache, die Fülle der neueren Literatur souverän überblickend, immer wieder offene Fragen und kontroverse Interpretationen ansprechend, entschlüsselt Pohl die nicht selten über die konkrete Mordpolitik miteinander im Konflikt liegenden Täter, geht den Leidenswegen der Opfer nach und arbeitet präzise die Dynamisierung der Gewalt im Zuge des Krieges heraus. So gibt er ein umfassendes Bild von den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft und den von Deutschland verübten Menschheitsverbrechen.
Rezension: Prof. Dr. Ulrich Wyrwa
Dieter Pohl
Nationalsozialistische Verbrechen 1939–1945
Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2022, 406 Seiten, € 45,–