Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der sich seit Februar 2022 zum gefährlichsten Militärkonflikt in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt, hatte von Beginn an auch eine geschichtspolitische Dimension. Die Erinnerung an die einstige Größe des russischen Imperiums und des Sowjetreichs bestimmt das Denken Wladimir Putins, der dem 1991 gegründeten ukrainischen Staat jede Form politisch-kultureller Eigenständigkeit und Existenzberechtigung abspricht.
„Putins Missbrauch der Geschichte“, so Serhii Plokhy, ist jedoch mehr als nur „eine weitere Manipulation der Vergangenheit, um einen Vorwand für einen Akt der Aggression zu liefern“. Für den an der Universität Harvard lehrenden ukrainisch-amerikanischen Historiker ist die Argumentation des russischen Präsidenten auch Ausdruck einer vollständigen Fehleinschätzung des Beharrungswillens und Widerstands der Ukrainer, die nicht erst während der letzten drei Jahrzehnte zu einer Nation gereift sind. Die einzelnen Stufen dieses Nationsbildungsprozesses nachzuzeichnen ist das erklärte Ziel des Buches, das vor der Eskalation des Ukraine-Konflikts zu einem umfassenden Krieg geschrieben wurde.
Plokhy führt den Leser durch die faszinierende, aber auch verwirrende Geschichte eines Landes, das erstmals während des frühen 17. Jahrhunderts als „Ukraine“ auf europäischen Landkarten auftauchte. Im Zentrum stehen vier größere Themenschwerpunkte: das Kosakentum, das den Gründungsmythos der modernen ukrainischen Nation darstellt, die Zeit zwischen den russischen Revolutionen von 1917 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, dann die Zeitgeschichte der Ukraine und schließlich ein mit „Europäische Horizonte“ überschriebener Ausblick, der nach der Rolle der einzelnen osteuropäischen Staaten im neuen Europa fragt.
Plokhy ist mit der vielsprachigen Fachliteratur und den Quellen bestens vertraut, und seine Ausführungen überzeugen sowohl in den strukturgeschichtlichen, breite Zusammenhänge darstellenden Abschnitten als auch in den Details, wo es etwa um die Charakterisierung einzelner Persönlichkeiten geht. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich allerdings um eine Zusammenstellung älterer, an verschiedenen Orten publizierter Aufsätze. Insofern sind es nur bestimmte Schlüsselmomente, die dargestellt werden. Für den Fachmann sind diese Schlaglichter, auch wegen der präzisen Forschungsdiskussionen, ohne Frage erhellend. Für eine breitere Leserschaft, die nach Orientierung sucht und sich einen zeitlich wie thematisch ausgewogenen Überblick verschaffen will, ist der Sammelband weniger geeignet.
Autor: Prof. Dr. Joachim Bahlcke
Serhii Plokhy
Die Frontlinie
Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 544 Seiten, € 30,–