Manfred Hildermeier hat die beiden akademischen Referenzwerke sowohl zur Geschichte Russlands als auch zur Geschichte der Sowjetunion verfasst und auf knapp 3000 Seiten einen Zeitraum von über 1000 Jahren abgedeckt. Sein beeindruckendes Wissen hat der Göttinger Emeritus nun in einer komprimierten, gut lesbaren Buchfassung präsentiert. Anlass für diese Publikation war Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, bei dem Putin als präsidialer Geschichtslehrer und Geschichtsfälscher die Allgegenwart der Vergangenheit beschwört, um seine Repressions- und Kriegspolitik zu legitimieren. Wer den politischen Botschaften aus dem Kreml nicht auf den Leim gehen will, findet in diesem sachkundigen Buch einen guten Ratgeber.
Eines der Konzepte, mit dem sich Hildermeier in seinem akademischen Schaffen intensiv beschäftigte, war jenes von der Rückständigkeit. In seinen sieben recht unterschiedlich langen Kapiteln schildert das Buch, dass in den verschiedenen Epochen der russisch-sowjetischen Geschichte den jeweiligen historischen Akteuren Europa sowohl als Vorbild als auch als Feindbild diente und sich das politische Handeln oft daran orientierte, den Anschluss an die technischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungen der Zeit schnellstmöglich zu erlangen. Dadurch kam es nicht selten zu politischen Experimenten und gesellschaftlichen Verwerfungen.
Rückständigkeit wirkte einerseits als Privileg, um durch den Transfer leistungsfähiger Strukturen sowie Verfahren in Form geballter Geschichte rasant aufzuholen und Wachstumskräfte freizusetzen. Andererseits ergab sich aus der Rückständigkeit der Fluch, den Maßstab und das Ziel künftiger eigener Entwicklung in der Gegenwart der als fortgeschritten definierten Zustände
in westlichen Ländern zu sehen.
Dieser „Nachahmungsdruck“ (Ivan Krastev/Stephen Holmes) erzeugte mitunter das Bild eigener Minderwertigkeit, weil das Werden und Sein der eigenen Gesellschaft vor allem als Defizitgeschichte verstanden wurde. Daraus resultierte eine hochambivalente Beziehung zum Westen, der in bestimmten Phasen weniger als Verheißung, sondern vor allem als Bedrohung wahrgenommen wird.
Aktuell versucht Putins wenig zukunftsfähige fossile Diktatur, das Leiden an der eigenen Rückständigkeit mit dem seit 2012 groß inszenierten Wertekonflikt mit „Gayropa“ und mit dem neoimperialen Feldzug gegen die vermeintlich „unilaterale Weltordnung“ der USA zu überwinden. Wer verstehen will, warum sich Putin auf historischer Mission fühlt und im Krieg nicht das Scheitern, sondern vielmehr ein wichtiges Instrument von Politik sieht, sollte dieses Buch lesen. Es macht deutlich, dass Putin Geschichte nicht nur als politische Waffe benutzt, sondern seine Politik in der russisch-sowjetischen Geschichte tief verwurzelt ist.
Rezension: Prof. Dr. Klaus Gestwa
Manfred Hildermeier
Die rückständige Großmacht
Russland und der Westen
Verlag C. H. Beck, München 2022, 271 Seiten, € 18,–