Dass beim Vorrücken der Roten Armee auf deutschen Boden am Ende des Zweiten Weltkriegs viele Frauen von sowjetischen Soldaten vergewaltigt wurden, ist eine traurige Tatsache. Zahlenangaben dazu differieren; allein für Berlin gibt die Forschung 30 Prozent betroffene Frauen an. Doch wie ist dieser Exzess sexueller Gewalt zu erklären, und wie verhielten sich die Rotarmisten gegenüber den an ihrer Seite kämpfenden Kameradinnen? Dieser Frage ist die Göttinger Historikerin Kerstin Bischl in ihrem Buch „Frontbeziehungen“ nachgegangen. Sie analysiert behutsam und quellenkritisch unter anderem viele Selbstzeugnisse von bzw. Interviews mit Kriegsteilnehmerinnen und Soldaten.
Bischl blickt zunächst auf den Zusammenhang von Alltag und Gewalt in der Roten Armee. Der „Frontraum“ war gekennzeichnet durch Mangel, Todeserwartung und politische Repression. Dies trug nach Bischl dazu bei, dass sich die mehr und mehr brutalisierten Rotarmisten im Verlauf des Krieges mit einer „chauvinistische[n] und gewaltvolle[n] Männlichkeit“ identifizierten, die ausdrücklich sexuelle Gewalt einschloss und keinen Raum für individuell abweichendes Verhalten ließ. Nur wer sich als männlicher, sexuell aktiver Held darstellte, wurde in der soldatischen Gemeinschaft akzeptiert.
Bischls diskursanalytischer Zugriff zeigt: Eine große Rolle bei der Männlichkeitskonstruktion spielten vor allem Gespräche über sexuelle Aktivitäten. Diese fungierten quasi als sozialer Kitt zwischen den Soldaten. Im Gespräch herrschte auch das einseitige Bild einer sexuell jederzeit verfügbaren Frau vor.
Besonders bemerkenswert sind Bischls anschließende Untersuchungen zur Situation der etwa eine Million Rotarmistinnen, die sich als überzeugte Sowjetbürgerinnen freiwillig für die Armee gemeldet hatten. Anders als Frauen in den Streitkräften der anderen Kriegsteilnehmer hatten sie Soldatenstatus und kämpften nicht selten an vorderster Front. Erst in der Rückschau, in den Zeiten der Perestroika, gaben diese Veteraninnen an, dass es zu Übergriffen von Kameraden gekommen war. Als einzige Abwehrstrategie blieb den Frauen, zu ihrem Schutz mit einem höherrangigen Rotarmisten eine Frontehe einzugehen. Dafür wurden sie von den anderen als PPŽ („Feldfrau“ mit anzüglichem Beiklang) bezeichnet.
Um diese nun unerreichbaren Frauen kreisten die soldatischen Phantasien, die, so Bischls These, in schrankenlose sexuelle Gewalt umschlugen, als die Rotarmisten als Sieger mit Frauen in Kontakt kamen, die keinen männlichen Schutz besaßen. Dies betraf nicht nur deutsche, sondern auch polnische Frauen sowie „displaced women“, gerade erst befreite Zwangsarbeiterinnen oder Jüdinnen. Dies lässt den Schluss zu, dass nicht, wie oft angenommen, allein Rache am Gegner ein Motiv für die Vergewaltigungen war.
Bischl ist, trotz des manchmal störenden und nicht immer notwendigen Fachjargons, ein lesenswertes Buch gelungen, das nicht zuletzt durch die zahlreichen Zitate beklemmende Einblicke in das von Gewalt und Macht geprägte Erleben von Frauen und Männern im Krieg erlaubt.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Kerstin Bischl
Frontbeziehungen
Geschlechterverhältnisse und Gewaltdynamiken in der Roten Armee 1941–1945
Hamburger Edition, Hamburg 2019, 347 Seiten, € 28,–