1928 schrieb der Dichter Joachim Ringelnatz: „Ja, Stuttgart ist schön, gegen dies scheiß München ein Paris.“ Dieses – zugegebenermaßen schon etwas abgenutzte – Zitat deutet darauf hin, dass Städtevergleiche bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts en vogue waren. Das zeigt auch das Buch des Kulturwissenschaftlers Jens Wietschorke. Es führt jedoch nicht nach Stuttgart und München, sondern nach Wien und Berlin, in zwei europäische Metropolen, die in den Jahrzehnten um 1900 ebenfalls zu kulturellen Gegenspielern wurden. „Wien oder Berlin?“, das wurde in der Zeit der klassischen Moderne zur Glaubensfrage und zum Bekenntnis, wie der Autor schreibt.
Er untersucht, wie die beiden Hauptstädte in den zeitgenössischen Medien und im öffentlichen Diskurs miteinander verglichen wurden, und zeichnet nach, welche Vorstellungen, Zuschreibungen und Illusionen die Menschen mit ihnen verbanden. Zugleich setzt er sich mit dem komplexen Spiel von Klischee und Wirklichkeit auseinander. Das Ergebnis ist eine interessante kulturelle Verflechtungs- und Beziehungsgeschichte. Wietschorke kommt darin zu dem Schluss, dass die Menschen selbst es sind, die die Unterschiede zwischen den Städten prägen, indem sie ihre eigenen Geschichten und Erzählungen erschaffen, während sie durch das „Magnetfeld“ dieser Städte navigieren und dabei kulturelle Unterschiede erfahren und aushandeln.
Rezension: Dr. Anna Joisten
Jens Wietschorke
Wien – Berlin
Wo die Moderne erfunden wurde
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2023, 345 Seiten, € 26,–