Europa empfing über den Mythos der phönizischen Königstochter Europa seinen Namen und überhaupt wesentliche kulturelle und zivilisatorische Impulse aus dem Orient. Das ist seit langem bekannt. Es herrscht auch kein Mangel an Publikationen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie aus Europa jenes Europa wurde, das wir heute kennen. Und es fehlt auf dem Buchmarkt auch nicht an umfassenden, gut verständlichen Gesamtdarstellungen auf wissenschaftlichem Niveau, die den Bogen von der Antike bis in die Neuzeit spannen.
Man muss also einiges zu bieten und zu sagen haben, wenn man sich erneut diesem bedeutenden Thema widmet. Bernhard Braun, der an den Universitäten Salzburg und Innsbruck Philosophiegeschichte, Kulturgeschichte und Kunstgeschichte lehrt, hat sich an diese anspruchsvolle Aufgabe herangewagt. Die „Reise zum Ursprung unserer Kultur“ geht chronologisch vor, beginnt mit der prähistorischen Frühzeit und gelangt über die Meilensteine Griechen und Römer sowie das byzantinische und europäische Mittelalter bis in das innovative 15. Jahrhundert. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf der Geschichte der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Ausführlich widmet sich der Autor dabei den Entwicklungen auf dem Gebiet von Kunst, Wissenschaft und Philosophie. Das Buch endet – durchaus politisch korrekt – mit einem engagierten Plädoyer für ein modernes Europa, das sich mehr den freiheitlich-aufklärerischen Traditionen und der kulturellen Vielfalt als nationalstaatlichen Sehnsüchten verpflichtet fühlt.
Was der Autor bietet, ist gedankenreich, informativ und anregend. Vornehme Zurückhaltung ist seine Sache nicht. Klar und dezidiert bezieht er bewertende Position. Die Stärken des Buches liegen da, wo es um Geistes- und Kulturgeschichte geht, also dort, wo der Verfasser akademisch zu Hause ist. Im genuin historischen Bereich ist er weniger firm. So zitiert er (zu) häufig, um bestimmte Sachverhalte zu präsentieren, sicherheitshalber direkt aus der historischen Fachliteratur. Und es finden sich auch eine Reihe faktischer Fehler. Teilweise erklären sie sich aus dem Bestreben des Autors, originell zu formulieren. Aber, um nur zwei Beispiele zu nennen, Tomi am Schwarzen Meer, Exilort des römischen Dichters Ovid, war alles andere als ein, wie von diesem suggeriert, „garstiges Provinznest“. Und ebenso wenig war Byzanz vor der Gründung von Konstantinopel „heruntergekommen“. Mehr als grenzwertig sind in einer Publikation dieses Anspruchs Formulierungen wie: Alexander „soll sich zu Tode gesoffen haben“. Überhaupt wirken die vielen sprachlichen Modernismen/Anglizismen arg bemüht. Und die Attitüde des unverbindlich plaudernden Erzählers, der behaglich im Sessel sitzend seine gebannt lauschende Zuhörerschaft belehrt, geht letztlich auf Kosten von inhaltlicher Klarheit und Stringenz.
Rezension: Prof. Dr. Holger Sonnabend
Bernhard Braun
Die Herkunft Europas
Eine Reise zum Ursprung unserer Kultur
Verlag wbg Theiss, Darmstadt 2022, 560 Seiten, € 35,–