Ravenna ist eine vielbeschriebene Stadt. Nun legt Judith Herrin eine umfassende historische Darstellung der Metropole, die mehrere Jahrhunderte den nördlichen Adriaraum prägte, aus oströmischer Sicht vor. Herrin entwickelt eine urbane Biographie, die durch prominente Gestalten – beginnend mit Galla Placidia und endend mit Karl dem Großen – gegliedert ist.
In der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts stieg die Stadt zu einer respektablen Kaiserresidenz auf, die seit Augustus durch den Militärhafen Classe (so lautet die übliche Form!) eine wichtige Seeanbindung aufwies und nun zunehmend strategische Bedeutung besaß, da Ostia bei Rom nicht mehr zu benutzen war. Allerdings notierten bereits die Zeitgenossen die zunehmende Verlandung der Gegend.
Honorius wählte die Stadt, die er „mit beeindruckenden Gebäuden bestückte“, 402 als sicheren Regierungssitz; dort erlebte er den Fall Roms 410 an Alarich. Die damit verbundene Anekdote mit Honorius’ Hahn Roma, über dessen Tod er bestürzter als über das Ende der Hauptstadt Rom gewesen sei, fehlt in Herrins Darstellung, dabei hätte dies ein wenig Licht auf das Hofleben der Zeit geworfen. Mit der Aufwertung zur Kaiserstadt ging auch der Aufstieg des Bischofssitzes einher.
Zentral in Herrins Darstellung ist Galla Placidia, welche 425 aus Konstantinopel wieder nach Ravenna kam, um für ihren Sohn Valentinianus (III.) die Regentschaft zu führen. Sie prägte die Stadt als Stifterin und Politikerin. 450 verlegte Valentinianus III. seinen Regierungssitz nach Rom, doch führte diese Entscheidung letztlich zum Überfall durch die Vandalen im Jahr 455.
Die bischöfliche Politik verstärkte sich in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Es kam zu religiösen Spannungen, da sich eine arianische Gemeinde etablieren konnte; verewigt ist dies durch die beiden Baptisterien. Der letzte römische Kaiser Romulus wurde 475 zum Kaiser gekrönt, doch übernahmen im Jahr darauf die Goten unter Odoaker die Stadt. Es entstand eine spannende und fruchtbare Koexistenz zwischen den römischen und gotischen Bevölkerungsteilen, wobei gerade in letzter Zeit die eindeutigen Zuschreibungen von Identitäten diskutiert wurden.
Eine Blütezeit erlebte Ravenna unter Theoderich, der dort auch bestattet ist. Die Porphyrwanne im Obergeschoss seines Mausoleums ist jedoch entgegen der Angabe im Buch nicht sein Sarkophag. Als 751 die Langobarden die Stadt übernahmen, ging die Verbindung zu Byzanz verloren; Karl der Große nahm gut 50 Jahre später Eindrücke von seinem Besuch Ravennas mit nach Aachen, die sich dort – bis heute sichtbar – materialisierten.
Trotz der vielen Verluste über die Jahrhunderte existieren einzigartige Objekte in Ravenna, wie die Autorin zeigt, darunter auch ein marmorner Osterkalender. Zu ergänzen wäre eines der wohl eindrücklichsten Mosaike (in der erzbischöflichen Kapelle) mit einem „Christus militans“, der eine Rüstung trägt, das Kreuz wie eine Lanze schultert und einen Löwen sowie eine Schlange bändigt. Die vorliegende Publikation, welche im Großen und Ganzen gut zu lesen ist und durch eine systematische Aufbereitung der Literatur sowie hervorragendes Bildmaterial besticht, entwirft eine profunde Stadtgeschichte und sollte bei keiner Beschäftigung mit Ravenna fehlen.
Rezension: Prof. Dr. Michael Grünbart
Judith Herrin
Ravenna
Hauptstadt des Imperiums
Schmelztiegel der Kulturen
Verlag wbg Theiss, Darmstadt 2022, 640 Seiten, € 39,–