Seit 2021 ist Gabriel Zuchtriegel – als erster Deutscher – Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji. Nun hat er ein sehr persönliches Buch vorgelegt, in dem man (fast) mehr über Gabriel Zuchtriegel als über die weltberühmte Ausgrabungsstätte am Vesuv erfährt. Das ist kein Zufall: Der Autor möchte weg von einer konventionellen Betrachtung der Säulen hin zu einer Begegnung mit der Antike, die geleitet ist von der persönlichen Geschichte. Man muss, so die Botschaft, von der Antike persönlich berührt werden. Schon Goethe wollte das Land der Griechen mit der Seele suchen, allerdings nicht in dem Sinn, wie Zuchtriegel Pompeji sucht. Ihm geht es darum zu zeigen, was die Antike über uns erzählt, im Trend der heutigen Zeit formuliert: Was macht die Antike mit uns? Und was machen wir mit der Antike?
Der Autor geht mit den universitären Forschern hart ins Gericht, wenn er ihnen ins Stammbuch schreibt, sie würden zwar eifrig publizieren, hätten aber die Lust an der Wissenschaft verloren. Doch akademisches Leben läuft, wie anzumerken ist, sicher nicht überall so, wie es der Autor in seiner eigenen Studienzeit erlebt haben will. Man kann an Pompeji natürlich auch anders heran gehen, nicht in der Eigenschaft als Objekt und Medium der Selbsterkenntnis. Etwa, in dem man sich auf das Andere, das Fremde einlässt. Dafür ist die 79 n. Chr. vom Vesuv verschüttete Stadt mit ihren einzigartigen Einblicken in das antike Alltagsleben bestens qualifiziert. Und da der Autor seine Zielsetzung der Selbstfindung im weiteren Verlauf doch etwas aus den Augen verliert, erfährt man auch einiges über Pompeji und überhaupt über antike Kultur und Kunst. Systematisch geht er dabei nicht vor, die vier Hauptkapitel sind lose aneinander gereiht und auch intern nicht immer stringent.
Zu den Stärken des Buches gehören jene Passagen, in denen es um die Funktion der Kulte und die Bedeutung der Religion geht. Der Autor liefert hier sehr kompetente Analysen und Interpretationen. Wenn der Direktor schreibt, hofft man bei der Lektüre natürlich auf die Präsentation von Insider-Wissen – und wird nicht enttäuscht. Spannend und anschaulich ist die Beschreibung von der Entdeckung des Sklavenzimmers in dem Villenkomplex von Civita Iuliana im November 2021. Der einfache Raum, 16 Quadratmeter groß, mit drei Betten bietet in seiner Schlichtheit einen krassen Kontrast zu den Prachthäusern der Reichen.
Der Autor ist um eine einfache Sprache bemüht, will mit seinem betont lockeren Ton („okay, zugegeben …“) das Lesepublikum nicht mit schwerfälligem Stil und einer Inflation an Fachbegriffen abstoßen. Wer die häufigen Wortmeldungen des Autors in eigener Sache schätzt, wird an dem Buch Gefallen finden. Wer noch etwas mehr über Pompeji selbst erfahren möchte, sollte sich an einschlägige, primär historisch und archäologisch orientierte Darstellungen halten.
Rezension: Prof. Dr. Holger Sonnabend
Gabriel Zuchtriegel
Vom Zauber des Untergangs
Was Pompeji über uns erzählt
Propyläen Verlag, Berlin 2023, 240 Seiten, € 29,–