Da ist etwa der 28-jährige Jechiel „Chil“ Rajchman. Er war Gefangener im Vernichtungslager Treblinka. Während seine Schwester nach der Ankunft im Lager ermordet wurde, musste er als „Arbeitsjude“ die Leichen aus den Gaskammern in die Massengräber transportieren. Rajchman ist einer von 40 Menschen, die Peter Englund in seinem „Geflecht aus Biographien“ beleuchtet.
Mit dem Buch verlässt der schwedische Historiker ausgetretene Pfade der Geschichtsschreibung. Es ist eine Momentaufnahme des Novembers 1942, des Monats, der als Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs gilt. Doch anstatt Entscheidungsschlachten zu analysieren, lenkt Englund den Blick auf diejenigen, die den Krieg unmittelbar erlebt haben. Darunter befinden sich sowohl bekannte Akteurinnen wie die deutsche Widerstandskämpferin Sophie Scholl als auch weitgehend unbekannte Schicksale wie das der Zwangsprostituierten Okchu Mun aus der ehemaligen Königsstadt Mandalay in Birma, die während des Krieges weitgehend zerstört wurde. Ihre Geschichten, die auf fundierter Quellenarbeit beruhen, werden zu einer großen Erzählung verwoben. Englund ermöglicht wenig Distanz, er erzählt nah an den Menschen und verwendet durchgängig das historische Präsens, was dazu führt, dass man als Leser noch stärker in die Gefühlswelten der Einzelschicksale hineingezogen wird. Fraglos eine bewegende Lektüre.
Rezension: Dr. Anna Joisten
Peter Englund
Momentum
November 1942 – wie sich das Schicksal der Welt entschied
Rowohlt Berlin, Berlin 2022, 672 Seiten, € 35,–