Auch wenn die großen Themen der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts längst „abgegrast“ zu sein scheinen, kurbelte spätestens 2018 das 100-jährige Jubiläum zur Gründung der Weimarer Republik neue Diskurse an. Die Abschaffung der Monarchie, die Einführung des Frauenwahlrechts, das Aufbrechen der Rollenbilder, das Bauhaus, eine blühende Kinokultur – nur einige der zahlreichen Errungenschaften der jungen Republik, die zum Teil bis heute fortwirken. Wie die Herausgeber des Handbuchs argumentieren, erscheint die Weimarer Republik durch ihre Modernität „näher an unseren eigenen Lebenswelten (…) als andere Epochen wie das Kaiserreich, aber auch die 1950er Jahre der Adenauerzeit“. Doch auch die Schattenseiten dürfen nicht vergessen werden: Verzweiflung und Wut über die Kriegsniederlage, links- und rechtsextremistische Putschversuche, die Wirtschaftskrise, belastende Kriegsschuld… „Aufbrüche und Abgründe“ in der Weimarer Republik – der Titel ist Programm.
Neben etlichen Büchern und Sammelbänden zu Spezialthemen der ersten deutschen Republik, stellt das vorliegende Handbuch mit einer interdisziplinären Autorenschaft aus der Geschichtswissenschaft, den Kulturwissenschaften, der Judaistik und Germanistik nun den Anspruch, die Lücke eines aktuellen Überblickwerks für die gesamte Zeit von 1918 bis 1933 zu füllen. Zusätzlich eröffnet das Werk neue Blickwinkel auf bisher wenig behandelte Themen der Zeit. So zum Beispiel die nicht unwichtige Gesellschaftsschicht auf dem Land – laut einer Volkszählung von 1925 waren noch 30,5% aller Erwerbstätigen in der Republik im Land- und Forstwirtschaftssektor beschäftigt. Auch neu: der transnationale Blick von Weimar nach Amerika und Russland als die „zwei modernsten Staaten der Welt“ im Vergleich zum „alten, versinkenden Europa“.
In 32 Kapiteln liefert das Buch einen breiten Überblick quer durch die Weimarer Republik, welcher einem schlüssigen Aufbau in fünf Oberthemen folgt: Zunächst werden in vier Perioden der Verlauf der Republik abgehandelt, danach folgen ausführlich die Rahmenbedingungen der Politik. Nach den Parteien und Parteimilieus liefern die Beiträge zu Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur einen Rundumblick in das Weimarer Alltagsleben. Lediglich die Aufteilung von „Gesellschaft und Wirtschaft“ in einem Oberkapitel mit Themen wie „Körper, Sexualität und Geschlechterordnung“, und die separate Behandlung von „Kultur“ im nächsten ist nicht immer nachvollziehbar und zeigt, wie schwierig eine eindeutige Zuordnung zu diesen übergreifenden Themen ist.
Das Werk glänzt mit einer internationalen Autorenschaft und fördert mit einigen treffenden Fotos, Karikaturen, Karten und Tabellen das Durchhaltevermögen beim Lesen des knapp 1000 Seiten langen Buchs.
Aufbruch und Abgründe ist mittlerweile zu einem regelrechten Nachschlagewerk avanciert und besonders als Überblicksliteratur für Studierende und Dozierende, aber auch für eine geschichtlich interessierte Leserschaft äußerst gewinnbringend.
Rezension: Lea Brüggemann
Nadine Rossol/Benjamin Ziemann (Hrsg.)
Aufbruch und Abgründe
Das Handbuch der Weimarer Republik
Verlag wbg Academic, Darmstadt 2021, 992 Seiten, € 80,-