Mit der Eroberung Amerikas durch die Spanier um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert wurde der „Aufstieg des Westens“ eingeläutet – so lautet eine verbreitete Meinung. Als Triebfedern für diesen Vorgang werden ökonomische Motive ebenso ins Feld geführt wie Machtstreben und Expansionsgelüste der Europäer. Der an der Universität Yale lehrende Historiker Alan Mikhail nimmt in seinem Buch eine völlig andere Perspektive ein: Nach seiner Meinung gab erst das militärische Ausgreifen des Osmanischen Reichs nach Westen den Anstoß für die Europäer, sich der „Neuen Welt“ zuzuwenden, wo sie ihren Feldzug gegen den Islam in anderem Gewand fortgesetzt hätten. Dementsprechend bezeichnet der Autor etwa die Aktivitäten des Kolumbus als „Kreuzzug“.
Die provokante These, nach der „die Geburt der modernen Welt“ (so der Untertitel) nicht von Christen, sondern von Muslimen ausgegangen ist, konkretisiert Mikhail in seiner biographischen Betrachtung des osmanischen Sultans Selim I. (1470–1520), eines höchst ehrgeizigen Herrschers, der eine große Machtbasis für sein Reich schuf. Flüssig geschrieben und mit pointierten Urteilen gespickt, fordert das Buch zum Umdenken auf, nicht immer überzeugend, aber durchaus anregend.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Alan Mikhail
Gottes Schatten
Sultan Selim und die Geburt der modernen Welt
Verlag C. H. Beck, München 2021, 508 Seiten, 32,–