„Mit der Unterstützung unseres Reichsführers SS H. Himmler gelang es mir, auf dem Gebiet der Tibetforschung … eine neue Synthese herbeizuführen, eine Synthese der Geistes- und Naturwissenschaften, die lebensgesetzliche Erfassung eines für uns außerordentlichen Lebensraums“. So beschreibt Ernst Schäfer seine sagenumwobene SS-Expedition nach Tibet von 1938 bis 1939 nach der Rückkehr ins Deutsche Reich. Der Religionswissenschaftler und Journalist Peter Meier-Hüsing erzählt in „Nazis in Tibet“ die Geschichte dieser vielschichtigen Unternehmung.
Meier-Hüsing zeichnet zunächst die Entstehung der Rassenlehre nach, mit einem besonderen Augenmerk auf die Anfang des 19. Jahrhunderts behauptete Herkunft der „arischen Rasse“ aus dem indischen Raum. Von diesen frühen pseudo-wissenschaftlichen Theorien zieht der Autor eine ideengeschichtliche Linie bis zu den oft absurden Ansichten Heinrich Himmlers, der beispielsweise das verborgene Königreich „Argarthi“ unterhalb des Himalayas als Ursprungsort der „Ur-Arier“ ansah.
Ernst Schäfer, studierter Zoologe und Botaniker, hatte bereits 1931 mit 21 Jahren an einer Expedition ins Vorland der tibetischen Hochebene teilgenommen. Seit dieser ersten Reise nach Asien wird Tibet der Sehnsuchtsort schlechthin für den jungen Forscher. 1933 trat Schäfer der SS bei, 1934 folgte eine weitere Expedition nach Asien. Als Heinrich Himmler ihm dann eine erneute Expedition Richtung Tibet in Aussicht stellte, konnte Schäfer nicht Nein sagen, auch wenn er mit den Theorien des „Reichsführers SS“ über die Herkunft der „Arier“ nicht übereinstimmte. Himmler versprach sich von einer solchen Expedition neue Erkenntnisse zur Herkunft der „Herrenrasse“, doch auch die Suche nach winterhartem Getreide sowie der Aufbau möglicher diplomatischer Beziehungen zu Tibet sollten im Zentrum der Reise stehen.
Die im April 1938 beginnende Expedition verlief keineswegs problemlos, sie war geprägt von Auseinandersetzungen mit den Engländern, Spannungen mit Einheimischen sowie Streit innerhalb des Expeditionstrupps. Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konflikte in Europa verweigerten die Engländer den Deutschen oft die Weiterreise in ihre Hoheitsgebiete – sie befürchteten deren Versuch, den englischen Einfluss in Asien zu unterminieren. Einheimische reagierten irritiert auf „anthropologische“ Körpervermessungen durch die Deutschen, und auch Schäfers starke Jagdaktivitäten sorgten oft für Unmut. Abgesehen von dem Triumph, als erste Deutsche die tibetische Hauptstadt Lhasa betreten zu haben, der propagandistischen Ausschlachtung der Expedition in den heimischen Medien sowie einem Brief des tibetischen Regenten an den „deutschen König Herrn Hitler“ ist am Ende nicht ganz klar, was diese Unternehmung eigentlich gebracht hat.
Peter Meier-Hüsing erzählt die spannende Geschichte einer ideologisch geprägten Expedition ins Unbekannte. Er nimmt die Leser nicht nur mit auf eine höchst politische Reise in das tibetische Hochgebirge, sondern erkundet vor allem auch die Psyche eines jungen Forschers in Nazideutschland. Ernst Schäfer scheint zerrissen zwischen seinem Drang nach Entdeckung und wissenschaftlicher Anerkennung einerseits, und seinen Zweifeln, ob er sich dafür mit Himmler und führenden „Rassetheoretikern“ gemein machen kann, andererseits. So wird „Nazis in Tibet“ zu einem interessanten Buch über Wissenschaft vor dem Hintergrund der NS-Rassenpolitik.
Rezension: Jonas Kreutzer
Peter Meier-Hüsing
Nazis in Tibet
Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer
Konrad Theiss Verlag, Darmstadt 2017, 287 Seiten, 19,99€