Rudolf von Ems (um 1200–1254?) gilt als einer der produktivsten Dichter des hohen Mittelalters. Sein letztes, mit gewaltigen 36 338 Versen größtes und mit über 90 überlieferten Handschriften und Fragmenten erfolgreichstes Werk war die „Weltchronik“. Sie entstand um 1250 im Auftrag des Stauferkönigs Konrad IV. Unter den 17 illustrierten Kodizes der „Weltchronik“ ragt der um 1300 entstandene Prachtkodex Ms. 302 der Vadianischen Sammlung in St. Gallen besonders hervor. Nun legt ein interdisziplinäres Autorenteam eine weitere umfangreiche Dokumentation der Handschrift vor. Rudolf Gamper, der ehemalige Bibliothekar der Vadiana, der Marburger Mediävist Jürgen Wolf, die Kölner Expertin für Kunsttechnologie Doris Oltrogge und der Restaurierungsexperte Robert Fuchs beleuchten eine Vielzahl philologischer, historischer, kunsthistorischer, materialwissenschaftlicher und restauratorischer Aspekte.
Der Band fasst nicht nur die aktuelle Forschung auf einem auch Laien verständlichen Niveau zusammen. So wenden sich die Autoren etwa mit guten Argumenten gegen Zürich als immer wieder gemutmaßten Entstehungsort der „Weltchronik“ und Strickers „Karl“, der in der Handschrift das fehlende sechste Weltalter ersetzen sollte. Um so intensiver beleuchten sie dafür Zürich als Produktionsort des Prachtkodexes. Sorgsam rekonstruieren sie dabei einen stark arbeitsteilig organisierten Entstehungsprozess in bis zu drei weltlichen Werkstätten mit einer Vielzahl von Schreibern, Bildredakteuren und Illuminatoren.
Besonders eindrucksvoll ist die Auswertung der kunsttechnologischen Untersuchungen, die tiefe Einblicke in den Prozess der Buchproduktion gestatten. Spektroskopie, Infrarot-, Röntgen- und Durchlichtaufnahmen legen Vorzeichnungen, Übermalungen, Vergoldung, Materialien und Korrekturen offen. Ganz neue Einblicke bieten die dabei gefundenen Benutzerspuren. Verwischungen kleiner Speicheltröpfchen bezeugen die typisch mittelalterliche Vortragssituation. Wachströpfchen und Einmerker legen nahe, dass die stolzen Besitzer des Kodexes die Bilder auch ohne begleitende Lektüre lange und intensiv betrachteten und dabei das Spiel der Farben und Reflexe genossen.
In über 500 Farbabbildungen kommt der Leser dem mittelalterlichen Kodex ungewöhnlich nahe. Sie wurden sämtlich unter Einsatz zusätzlicher Lichtquellen aufgenommen. Die Vergoldungen wirken dadurch im Vergleich zu Faksimile und Digitalisat wesentlich intensiver. Bilder aus Vergleichshandschriften und der kunsttechnologischen Untersuchung beleuchten die Entstehung und Einordnung jeder einzelnen Miniatur.
Am beeindruckendsten sind die zahlreichen Ausschnittvergrößerungen. Sie wirken dem Vorurteil entgegen, das Mittelalter kenne nur stereotype Gesichter und statische Figuren. Das Gesicht des toten Ritters Roland – im Original nur wenige Millimeter groß – wird in der ganzseitigen Darstellung zum schlagenden Beleg für die Fähigkeit mittelalterlicher Illuminatoren, auf winzigstem Raum Dynamik und Emotionen auszudrücken. Fazit: ein wunderbarer Band für alle Freunde mittelalterlicher Buchkunst.
Rezension: Prof. Dr. Rainer Leng
Rudolf Gamper u. a.
Die Weltchronik des Rudolf von Ems – und ihre Miniaturen
Illustrierte Weltgeschichten aus dem mittelalterlichen Zürich
Nünnerich-Asmus Verlag, Oppenheim 2022, 392 Seiten, € 45,–