Albrecht Dürer als Zeitzeugen aufzurufen und ihn zum Führer durch die deutsche, ansatzweise sogar europäische Geschichte zu bestellen ist eine ausgezeichnete Idee und zugleich eine große Herausforderung. Gilt es doch, die Biographie eines gehobenen Nürnberger Handwerkers – denn das war der Stand, den der Maler und Graphiker in den Augen seiner Mitbürger einnahm – mit der Lebenswirklichkeit aller Schichten, mit den wirtschaftlichen und kulturellen Trends, mit der Politik, der Rolle der Kirche und dem Stellenwert der Religion und nicht zuletzt mit dem Schwierigsten, den Mentalitäten, den Bewusstseinshorizonten, Weltsichten, Selbstverständnissen und der Wahrnehmung des Alltags zu verbinden.
Dieses Wagnis gelingt dem Verfasser insgesamt sehr gut. Das hat viel mit der unverkrampften Art und Weise zu tun, wie hier zu einem Epochenspaziergang eingeladen wird: mit Fach- und Sachwissen, das sprachliches Imponiergehabe erfreulicherweise durchgehend überflüssig macht, ohne Berührungsängste vor vorgeblich erhabenen Gegenständen, immer plastisch, anschaulich, narrativ. Die Leserinnen und Leser sollen sich geführt, aber nicht bevormundet fühlen, und so werden sie im Stil einer verschriftlichten Vorlesung auch angesprochen.
Die Verbindung zwischen dem Mikrokosmos Dürer-Nürnberg und dem Makrokosmos Reich-Italien-Niederlande-Europa bilden Gemälde und Zeichnungen Dürers, die den jeweils ausführlicher behandelten Themenfeldern sinnbildlich vorgeschaltet sind, visuell in diese einführen und Interesse am Gegenstand wecken sollen. Auch das gelingt angenehm unaufdringlich, ohne dass man an dieser Stelle innovative Bilddeutungen erwarten darf. Diese Einschränkung gilt für die Darstellung Dürers insgesamt, die sich durchgehend an den alten Formeln des „Universalgenies“ und anderen ähnlich
problematischen Versatzstücken aus einer durchgehend auf Genie-Kult ausgerichteten Dürer-Biographik bedient.
Eine gleich starke Abstützung von insgesamt 50 thematisch orientierten Einzelkapiteln darf man fairerweise nicht voraussetzen. Am schwächsten zeigt sich diese Unterfütterung mit Quellenmaterial und Interpretationen im Bereich Kirche und Religion. So bleiben die Umrisse des Papsttums um 1500 mit seinen inneren Dynamiken und Normen, aber auch mit seinen Anstößigkeiten und kulturellen Anstößen blass. Ähnliches lässt sich zu den Skizzen der Reformation Luthers und zu ihrer Abgrenzung vom deutschen Humanismus festhalten, über dessen Prioritäten und Auseinandersetzungen mit den italienischen Vorläufern mehr zu sagen gewesen wäre.
Unter dem Strich ergänzen sich alle diese Einzelbilder zu einem Gesamt-Tableau, das den auf Seite 130 gemeinplatzartig konstatierten „epochalen Veränderungen der Zeit um 1500“ erfreulich differenziert widerspricht. Das vorherrschende Lebensgefühl Dürers und seiner Zeitgenossen war nicht der von der Geschichtsschreibung seit Jacob Burckhardt überstrapazierte kühne Aufbruch in eine schöne Zukunft, sondern eine defensive, von Unsicherheit und oft auch Angst geprägte Grundhaltung. Gerade deshalb sei der flüssig geschriebene, schön illustrierte Zeit-Bilderbogen einem anspruchsvollen Publikum zum Einstieg in diese zugleich nahe und ferne Vergangenheit empfohlen.
Rezension: Prof. Dr. Volker Reinhardt
Romedio Schmitz-Esser
Um 1500
Europa zur Zeit Albrecht Dürers
Verlag wbg Theiss, Darmstadt 2023, 504 Seiten, € 44,–.