Spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 beschwört man in politischen Diskussionen gern die Gefahr einer vermeintlichen „neuen Völkerwanderung“, wenn nicht gar das Ende des Weströmischen Reichs im 5. Jahrhundert als Menetekel für das künftige Schicksal der abendländischen Zivilisation an die Wand gemalt wird. Angesichts der historischen Zerrbilder und längst widerlegten Narrative, die in diesem Zusammenhang oft bemüht werden, ist eine zeitgemäße Gesamtdarstellung der Epoche nicht nur für die Fachwelt besonders wertvoll. Umso begrüßenswerter ist das umfangreiche Werk des Tübinger Althistorikers Mischa Meier, das umfassend, detailliert und zugleich methodisch reflektiert den aktuellen Forschungsstand bilanziert.
Meiers Darstellung meistert mit Bravour die methodischen Herausforderungen, die ein solches Unterfangen besonders schwierig machen. Denn die Epoche der Völkerwanderung steht im Übergangsbereich zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die traditionell jeweils einen eigenen Blick auf das Geschehen entwickelt haben: Alte Geschichte und Mediävistik; Provinzialrömische Archäologie, Christliche Archäologie und Mittelalter-Archäologie; verschiedene Philologien sowie in jüngster Zeit auch naturwissenschaftliche Forschungsfelder, wie historische Klimaforschung und Archäogenetik. In allen diesen Feldern hat Meier nicht nur den gegenwärtigen Kenntnisstand erarbeitet, sondern stellt auch die jeweiligen methodischen Probleme sowie Grenzen der Aussagekraft der einzelnen Quellengattungen dar.
Meier schreibt die Geschichte der Völkerwanderung als komplexes Wechselspiel zwischen römischer Politik und den Barbaren, Letztere zunächst jenseits der Grenzen des Imperiums, später zunehmend auch innerhalb. Er beschreibt die wachsende Entfremdung zwischen Ost und West, Konstantinopel und Rom, ebenso wie die vielgestaltige und wandelbare Struktur barbarischer Gruppen – diese als „Völker“ zu bezeichnen scheut sich Meier ebenso zu Recht wie weite Teile der aktuellen Forschung. Die geographischen Angaben im Untertitel des Buches sind im antiken und nicht im modernen Wortsinn zu verstehen, das heißt, der Autor behandelt neben Europa die Ereignisse in Nordafrika sowie die epochemachenden Umwälzungen im Vorderen Orient.
Zeitlich gesehen liegt der Schwerpunkt der Darstellung im „langen 5. Jahrhundert“, das heißt bei den dramatischen Ereignissen von der Ankunft der Hunnen in Osteuropa Ende des
4. Jahrhunderts bis zum weitgehenden Scheitern der byzantinischen „Reconquista“ des ehemaligen westlichen Reichsteils in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Aber auch jüngere
Ereignisse, wie die Ankunft der Awaren in Europa, das Ende des Sassanidenreichs, der Aufstieg des Islams oder die Expansion der Slawen, werden ausführlich dargestellt.
Insgesamt stellt Meiers glänzend geschriebene Darstellung nicht nur für die aktuelle Fachwelt einen Meilenstein dar, von der diese noch lange profitieren wird und die in dieser Breite auch in anderen Sprachen gegenwärtig unübertroffen ist. Darüber hinaus ist es Meiers besonderes Verdienst, den aktuellen Forschungsstand auch einem weiten Leserkreis nachvollziehbar und gut lesbar zu erschließen.
Rezension: Dr. Hubert Fehr
Mischa Meier
Geschichte der Völkerwanderung
Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.
Verlag C. H. Beck, München 2019, 1532 Seiten, € 58,–