Nur was fremd geworden ist, kann neu entdeckt werden: Dieser zwingenden Logik folgt der Althistoriker Michael Sommer in „Alle Wege führen nach Rom“. Den Rückzug des Wissens um Griechen und Römer in der Gesellschaft betrachtet er als Ansporn, mehr Antike zu wagen.
Ausgehend von seiner eigenen Begegnung mit dieser Epoche, diskutiert er zunächst Bestrebungen, sie als Fundament einer gemeinsamen europäischen Bildung zu verabschieden. Bei der Suche nach den Ursprüngen der Moderne folgt er Max Weber und stößt auf lange Schatten: Uns jagen ungebrochen „die Gespenster von Grenzverläufen, Gesellschaftsmodellen, religiösen Weltbildern und Konfliktkonstellationen, die bis auf die Jahrhunderte kurz vor und kurz nach Christi Geburt zurückgehen“. Das ist keine Bedeutsamkeitsfloskel, wie Sommer am Aufstieg des „Islamischen Staates“ im Irak und in Syrien, am Massaker von Srebrenica sowie an den Strukturgrenzen von Schottland und Wales zu England zeigt.
Gut lesbar durcheilt er die Hauptformationen antiker Geschichte, beginnend mit der „selbstoptimierten Leistungsgesellschaft“ der homerischen Helden. Von konventionellen Abrissen setzt er sich ab, indem er verschiedene Brennweiten verwendet. Die knappen Skizzen, etwa der athenischen Demokratie als „wirtschaftlicher Zugewinngemeinschaft“ oder „politischer Formelkompromiss“, mögen überspitzt sein, die Charakterisierung adliger Politik in der römischen Republik – Hinterzimmer; programmierbare Klientelen – gar schief, doch stehen dem treffende Bemerkungen entgegen, etwa der augusteische Prinzipat als „Schönwettermonarchie“.
Durch die Raffung gewinnt der Autor Raum für exemplarische Tiefenbohrungen. So erlangt ein griechischer Tempel im hellenistischen Magnesia am Mäander ebenso Gestalt, wie es kanonische Erzählungen tun, etwa zum Sturz des Königs in Rom, eine Stadt wie Palmyra oder eine Figur wie der jüngere Cato. Durch ihn schlägt der Autor zugleich die Brücke zur Wirkungsgeschichte antiker Modelle: von der frühen amerikanischen Verfassungsdebatte bis hin zu aktuellen Kontroversen um den Populismus, dem hier unter Berufung auf einen amerikanischen Beobachter Gerechtigkeit widerfährt, erwachse er doch aus dem „Schmerzensschrei“ von Bürgern, „deren Stimme in der parlamentarischen Demokratie sonst nicht gehört wird“. Die Debatte um Gefährdung und Zukunft der liberalen Demokratie werde jedenfalls, so das treffende Fazit, „mit Argumenten geführt, die 2500 Jahre alt sind“.
Ausführlich widmet sich Sommer der antiken Geschichte der Juden und Israels. Glänzende Bemerkungen zum Phänomen der Diaspora führen ihn zum modernen Nationalstaat. Nicht nur an dieser Stelle erweist sich der Autor als politisch scharfsichtiger Zeitgenosse, dessen Kommentare jedoch nie aufgesetzt erscheinen, sondern aus der Analyse der historischen Tektonik heraus überraschende Sichtweisen eröffnen. Auch wer schon etwas über die Antike weiß, wird das Buch mit großem Gewinn lesen.
Rezension: Prof. Dr. Uwe Walter
Michael Sommer
Alle Wege führen nach Rom
Die kürzeste Geschichte der Antike
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2022, 272 Seiten, € 22,–