Die historische Biographie ist im deutschen Sprachraum seit einigen Jahren wieder etabliert. Neben mehr oder weniger monumentalen Lebensgeschichten mehr oder weniger großer Männer und Frauen der Geschichte erscheinen auch wieder biographische Skizzen wie das jüngst von Barbara Stollberg-Rilinger herausgegebene Buch „Tyrannen“. Auf ähnliche Weise präsentiert Ian Kershaw zwölf Mini-Porträts europäischer Machthaber im 20. Jahrhundert, darunter sowohl Diktatoren wie Stalin, Mussolini, Hitler und Franco als auch demokratische Staats- und Regierungschefs wie Churchill, de Gaulle, Thatcher und Kohl.
Eigene Forschungen hat Kershaw nur zu Hitler unternommen. Dies macht sich beim Lesen auch bemerkbar. Bei der Porträtierung der Diktatoren ist er am stärksten, bei den übrigen Politikern am schwächsten. Dennoch gelingen ihm einige markante Feststellungen wie über Gorbatschow, der kein Diktator war, aber in einem quasi-diktatorischen System an die Schlüsselstelle politischer Macht gelangte.
In Einleitung und Fazit versucht Kershaw, einige Muster zu den Kurzbiographien zu überprüfen. Ansonsten sind die Porträts leider kaum miteinander verbunden. Kindheit und Jugend politischer Persönlichkeiten können nach Ansicht Kershaws in modernen Biographien außen vor gelassen werden. Dennoch kommt er immer wieder auf Episoden aus solchen Lebensphasen zurück, die sich für Historiker jedoch nur küchenpsychologisch eignen.
Nur am Rand spielt bei Kershaw das Prinzip Zufall eine Rolle: die glücklichen oder aus heutiger Sicht unglücklichen Umstände, die Choleriker, Egozentriker und Fanatiker an die Schaltstellen politischer Macht spülten. Doch ein Mann wie Adolf Hitler mühte sich ein Jahrzehnt lang ab, Diktator zu werden. Dass er es dann tatsächlich wurde, ist nur im Kontext der von ihm geführten Massenbewegung und der übrigen politischen Machtfaktoren jener Jahre zu verstehen.
Insgesamt sind die im Buch skizzierten Persönlichkeiten zu unterschiedlich. Die Grundannahme, wonach sie in ihren Ländern die Macht in Händen hielten, ist falsch. Denn alle verfügten über unterschiedliche Formen von Macht und übten diese teilweise völlig anders aus. Dementsprechend ist die Übersetzung im Deutschen bei Schlüsselbegriffen zu ungenau. Bei demokratischen Politikern wie Thatcher oder Kohl von „Machtübernahme“ oder „Machtergreifung“ zu sprechen ist unangebracht. Die Anbetung der Macht ist der rote Faden, der sich durch Kershaws Buch zieht. Eine Konzentration auf die Diktatoren Europas hätte daher mehr Sinn ergeben. Dann wäre aber nicht mehr das gesamte 20. Jahrhundert, sondern nur dessen erste Hälfte durchschreitbar gewesen.
Am Ende wagt Kershaw Zukunftsprognosen und sagt etwa dem chinesischen Herrschaftssystem, jenseits der Einzelperson Xi Jinping, eine lange Lebensdauer voraus. Zukunftsforschung steht der Geschichtswissenschaft immer schlecht an. So mancher berühmte Historiker bedauerte die Peinlichkeit, der Sowjetunion und der DDR noch kurz vor ihrem Zusammenbruch ein langes Leben prophezeit zu haben.
Rezension: Dr. Norman Domeier
Ian Kershaw
Der Mensch und die Macht
Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2022, 592 Seiten, € 36,–