Heute legen Individualreisende in Zug oder Pkw 100 Kilometer und mehr pro Stunde zurück. Fast alle Orte der Erde sind irgendwie erreichbar. Im Zeitalter von Globalisierung und Massentourismus bietet der Blick zurück in die Geschichte deshalb vor allem Andersartigkeit. Reisen im Mittelalter waren mühsam, gefährlich und nach unserem Zeitempfinden vor allem langwierig. Nur in dringendsten Fällen schafften Kuriere mit wechselnden Pferden 100 Kilometer pro Tag. In der Regel ging es wesentlich gemächlicher voran.
Anthony Bale überbrückt die zeitliche Ferne zwischen Gegenwart und Mittelalter mit einem intelligent gestalteten Buch, das von gut ausgewählten Beispielen und Geschichten lebt. Auch wenn im Mittelalter im Verhältnis zu heute nicht viele reisten, wurde viel gereist: aus Neugierde, zum Kämpfen, aus Frömmigkeit zu Pilgerzielen, aus Lust auf lukrative Gewinne im Fernhandel. Zum verlockenden Fernweh gesellte sich in der Fremde nicht selten das Heimweh.
Das Buch beginnt mit dem berühmten Nürnberger Globus von Martin Behaim von 1492 mit den drei in Antike und Mittelalter bekannten Kontinenten Asien, Europa und Afrika. Die Weltkugel entstand, als Kolumbus seine Westreise über den Atlantik wagte. Bald sprengte neues Wissen das tradierte Weltbild, und der Globus wurde zum Museumsstück. Bei den unscheinbaren Schwarzweißabbildungen im Kleinformat gab sich der Verlag leider keine Mühe. Anderswo sind Behaims Globus und die anderen Bilder dieses Buches weitaus besser präsentiert.
Quellennah lockt Bale seine Leserinnen und Leser immer weiter in die Ferne, zuerst durch das lateinische Europa, danach in die faszinierende Mittelmeerwelt mit Rundgängen durch Konstantinopel oder Jerusalem, schließlich nach Äthiopien, Indien, China oder Japan. Am Schluss stehen die mittelalterlichen Imaginationen vom Ende der Welt und von den Antipoden. Dabei wird über das Gesehene viel mehr als über das Reisen selbst geschrieben. Originell sind die Verhaltenstipps, die den Kapiteln im Stil eines modernen Reiseführers beigegeben werden: Umrechnungstabellen für Währungen, Regeln fürs Benehmen, Tipps zum Durchqueren der Wüste, erste Wörter in der fremden Sprache, dringend nötige medizinische Ausrüstung. Früh sollte der Reisende lernen, in einer mongolischen Jurte nicht zu urinieren oder Milch auf den Boden zu schütten. Wir nennen dies interkulturelle Kompetenz.
Der Verfasser nutzt für sein faszinierendes Buch vor allem englischsprachige Literatur. Die brillanten deutschsprachigen Bücher von Folker Reichert zum mittelalterlichen Reisen sind ihm leider entgangen. Text und Übersetzung tun sich schwer mit der im Mittelalter lange vorherrschenden Einnamigkeit. Bei dem oft genannten Odorich von Pordenone beispielsweise ist „von Pordenone“ weder Adelstitel noch Personenname, sondern einfach nur Herkunftsbezeichnung; korrekt heißt der Mann Odorich. Trotz solch kleiner Einwände liegt hier ein in Fülle und Weite gut geschriebener und vergnüglich zu lesender Reiseführer in ein fernes Zeitalter vor.
Rezension: Prof. Dr. Bernd Schneidmüller
Anthony Bale
Reisen im Mittelalter
Unterwegs mit Pilgern, Rittern, Abenteurern
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024, 480 Seiten, € 28,–