An Überblickswerken zur Geschichte Lateinamerikas hat es mittlerweile keinen Mangel mehr. Vom dreibändigen, schon etwas angegrauten Handbuch bis zum kurzen Überblick in der Reihe C. H. Beck Wissen ist für jeden etwas dabei. Mit Renate Pieper legt nun eine auf die Wirtschaftsgeschichte der frühen Neuzeit spezialisierte Historikerin ein weiteres Werk vor. In ihrer Periodisierung folgt die Verfasserin dem klassischen Schema des Handbuchs aus den 1980er Jahren.
Im Gegensatz zu den bereits erhältlichen Büchern will dieses den Vorlieben der Autorin entsprechend der Kolonialzeit mehr Gewicht einräumen und damit, wenn man so will, zurück zu den Anfängen der deutschen Lateinamerika-Geschichtsschreibung, die über viele Jahrzehnte hinweg vor allem Kolonialgeschichtsschreibung war, deren Schwerpunkt sich jedoch seit den 1980er Jahren zunehmend ins 19., 20. und nunmehr auch ins 21. Jahrhundert verschoben hat. Die Sattelzeit, deren Beginn Pieper für Lateinamerika sinnvollerweise auf 1763 datiert, erhält ein eigenes Kapitel. Die Phase von 1850 bis 1930, das „Zeitalter des Imperialismus“, und das 20. und 21. Jahrhundert, die „Epoche der Globalisierung“, werden dagegen auf engerem Raum abgehandelt. Auch die beiden Karten beziehen sich auf die Kolonialzeit.
Das Buch ist klassisch gegliedert. In den vier Kapiteln folgt einer Zeittafel mit den wichtigsten Daten der beschriebenen Epoche jeweils ein Unterkapitel zur Politik, eines zur Wirtschaft, eines zur Gesellschaft und eines zur Kultur. Jedes Unterkapitel hat ein eigenes Literaturverzeichnis, das einige Titel auflistet und natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit stellen kann. Pieper bettet ihre Erzählung vielfach in historiographische Debatten ein. Am interessantesten sind die Ausführungen auf ihrem Spezialgebiet, der frühneuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte. So erfährt man viel zu Konjunkturverläufen und Wirtschaftszentren in der Kolonialzeit und im Zeitalter der Revolutionen. Landverteilung und ländliche Wirtschaft werden ebenso zuverlässig vorgestellt wie Handwerk und Bergbau. Besonders interessant sind die Ausführungen zu Geld und Handel und zu den Kronfinanzen. Die Neuausrichtung der kolonialen Wirtschaften nach dem Zusammenbruch der iberischen Reiche und dem Beginn der Unabhängigkeit wird ebenfalls nachgezeichnet. Auch Gesellschaft und Politik des Kolonialreichs werden ausgiebig behandelt. Besonders ausführlich fällt die Darstellung zur demographischen Entwicklung aus, und auch eine Passage zu den Geschlechterverhältnissen fehlt in diesem Buch nicht. So erfährt man, dass in den hispanoamerikanischen Städten mit vorwiegend mestizischer Bevölkerung die Zahl der Frauen als Haushaltsvorstand überwog.
Dieses und viele weitere interessante Details bietet das Buch ebenso wie einen systematischen Einstieg in die mehr als 500-jährige Geschichte eines Kontinents, der sich durch die große Vielfalt der Menschen und Kulturen auszeichnet und gerade heute die Aufmerksamkeit historisch interessierter Leserinnen und Leser verdient.
Rezension: Prof. Dr. Dr. Stefan Rinke
Renate Pieper
Geschichte Lateinamerikas seit dem 15. Jahrhundert
Mandelbaum Verlag, Wien 2023, 416 Seiten, € 30,–