Der Umschlagtext weckt hohe Erwartungen: Alexander Bätz entdeckt Nero neu, heißt es dort. Dabei hat sich in Sachen Nero zuletzt einiges getan. Die 14 Jahre dauernde Herrschaft des letzten iulisch-claudischen Kaisers ist von der neueren Forschung aus den verschiedensten Blickwinkeln ausführlich durchleuchtet worden. Längst hat sie Abschied genommen von dem
einseitigen, von antiken Quellen kolportierten Bild, die Nero als Monster, als Tyrannen und Despoten, als Brandstifter und Christenverfolger stigmatisierten.
Die wissenschaftliche Nero-Literatur hat den Kaiser in den Kontext der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse seiner Zeit plaziert und seine evidenten Untaten und seine Exzentrik aus dieser Perspektive nicht zu rechtfertigen, aber doch herrschaftssoziologisch einzuordnen versucht. Auch Alexander Bätz, wissenschaftlicher Bibliothekar für die Altertumswissenschaften an der Universität Konstanz, folgt dieser modernen Methodik, setzt aber eigene Akzente. Der logisch nicht ganz konsistente Untertitel „Wahnsinn und Wirklichkeit“ ist allerdings weniger geeignet, seine Zielsetzung zu dokumentieren. Es geht ihm nicht um den vorhandenen oder nicht vorhandenen Wahnsinn Neros. Er will die Person Nero aus dem Fokus nehmen und mehr die verschiedenen Gruppen der Bevölkerung und ihr Verhältnis zum Kaiser in den Mittelpunkt stellen.
Das Buch geht dann aber doch eher konventionell vor. Alles dreht sich um Nero, und die Vorgehensweise orientiert sich an den wesentlichen Stationen seines Leben und und seiner Karriere. Der Autor ist dabei sehr gewissenhaft: Alle relevanten Aspekte finden Berücksichtigung, übersichtlich nach Kapiteln geordnet, die jeweils mit einem längeren, die Thematik treffend charakterisierenden Zitat aus den Quellen beginnen.
Im Ergebnis sieht der Autormin Nero einen Kaiser, der von den Zeitgenossen mehr geschätzt wurde, als es die ihm gegenüber notorisch negativ eingestellten Hauptquellen (Tacitus, Sueton, Cassius Dio) annehmen lassen. Insbesondere bei der stadtrömischen Bevölkerung und im griechischen Osten habe der Imperator hohe Sympathien genossen – eine sicher zutreffende, jedoch auch bereits zuvor bekannte Tatsache. So ist am Ende nicht recht erkennbar, welchen konkreten Ertrag der vom Autor gewählte Ansatz bringen soll. Es stimmt: Zeitgenossen haben eine andere Wahrnehmung als Spätere, die wussten, wie das Experiment
Nero ausging.
Die Grenzen der Aussagemöglichkeiten aber liegen auf der Hand: Was die Amme oder der Vorkoster über Nero dachten, wissen wir, wie der Autor selbst einräumt, nicht. Denn sie haben, wie fast alle Menschen, die in Neros Reich lebten, keine Aufzeichnungen hinterlassen. So kann Neros „Tauglichkeit im Alltag“ allenfalls in Ansätzen überprüft werden, gibt es Indizien, aber keine belastbaren Beweise. Einen neuen Nero präsentiert der Autor nicht. Doch lesenswert ist das Buch allemal. Der Verfasser hat mit großer Kompetenz und Sachkenntnis eine packende Darstellung geliefert, mit der die Leser auf eindrucksvolle Weise in eine der turbulentesten Epochen der römischen Geschichte eintauchen können.
Rezension: Prof. Dr. Holger Sonnabend
Alexander Bätz
Nero
Wahnsinn und Wirklichkeit
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 576 Seiten, € 34,–