250 Jahre Geschichte der Juden in den beiden Metropolen Berlin und Wien zu beschreiben und zu bewerten ist ein ziemlich ehrgeiziges Unterfangen. Ingo Haar konzentriert sich dem Titel zufolge zwar auf Probleme der Migration und der je diversen Entwicklung; doch stellt man nach der Lektüre des Bandes schnell fest, dass der Autor weit darüber hinaus gehen musste, da im Grunde alles miteinander zusammenhängt – normative Regulierungen durch Erlasse und Verordnungen der Obrigkeiten konnten nicht ohne die konkreten Auswirkungen auf das jüdische Leben diskutiert werden, und monarchische Grundentscheidungen gegenüber den Juden, der Ausschluss des „Fremden“, die Förderung oder Verhinderung autonomer Gemeindebildungen und rabbinischer Gerichtsbarkeit konnten nur sachgerecht beurteilt werden, wenn man die Haltungen der Beamtenschaft, der Geistlichkeit oder auch der christlichen Bevölkerungsmehrheit mit bedachte.
Bedacht werden musste weiter, dass auch rigide obrigkeitliche Entscheidungen gegenüber den Juden auf einem Aushandlungsprozess mit diesen beruhten und befriedendes Ergebnis einer längeren Konfliktsituation sein konnten. Ob am Ende Juden integriert oder im Gegenteil aus der christlich geprägten Untertanenschaft ausgeschlossen wurden, war von unterschiedlichsten Faktoren abhängig, die vielfach wechseln konnten.
All dies hat der Autor bedacht und in einer inhaltlich und sprachlich überzeugenden Weise dargetan. In seiner Einleitung spricht er die Probleme unter Heranziehung des Forschungsstands deutlich an – auch wenn viele seiner dort vergleichsweise abstrakt geäußerten Argumente erst im Lauf der Lektüre weiterer Abschnitte besser verständlich werden. Inhaltlich geht es um einen Vergleich der beiden Residenzen Berlin und Wien, die jeweils eine wechselvolle Geschichte in Bezug auf Duldung oder Vertreibung der Juden aufweisen.
Der Autor beginnt mit einer Schilderung der „Wiener Gezera“ 1669/1671 und der Aufnahme der Vertriebenen in Berlin (und anderswo). Er verfolgt die Entwicklung über die Zeiten des Absolutismus, der Aufklärung, der Emanzipation, der rechtlichen Gleichstellung 1848, der weiteren Entwicklung bis zum Berliner Vertrag von 1878, die Zeiten der Repression und des Antisemitismus im Kaiserreich bis hin zur sogenannten Judenzählung im Ersten Weltkrieg. Recht ausführlich geht der Autor auf die Rolle der Hoffaktoren im Rahmen der kameralistischen Territorialpolitik ein, freilich vor allem auf der Grundlage der älteren Forschung. Dies ist aber kein Nachteil, da die Gesamttendenz hier – wie auch bei anderen Problembereichen – zutreffend und unter Heranziehung vieler Originalquellen herausgearbeitet wird.
Die ambivalente Entwicklung wird in einem Ergebniskapitel gut lesbar zusammengefasst. Doch wird nur derjenige die Ergebnisse richtig einordnen können, der weiß, dass die beiden häufig in Bezug auf die Verwaltungsgeschichte miteinander verglichenen Mächte nicht unbedingt repräsentativ für die Gesamtentwicklung stehen.
Rezension: Prof. Dr. J. Friedrich Battenberg
Ingo Haar
Jüdische Migration und Diversität in Wien und Berlin 1667/71–1918
Von der Vertreibung der Wiener Juden und ihrer Wiederansiedlung in Berlin bis zum Zionismus
Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 535 Seiten, € 42,–