Historische Dramatik kommt auf, es wird erzählt. Und endlich wieder der Sinn für das wirklich Bedeutende! Wem das Mittelalter zuletzt in den Beliebigkeiten symbolischen Handelns und französischer Intimität oder kultureller Details eines Schwarzwalddorfs zerrann – jetzt kann er endlich wieder das Wichtige nachlesen. Es ist kaum ein Zufall, daß zwei führende Publikumsverlage in diesem Herbst zwei nahezu gleich starke und gleich lautende Bücher über „Höhepunkte“ oder „Wendepunkte“ des Mittelalters herausbringen. Beide Vorworte bekennen sich lustvoll zum Ereignis wie zur Jahreszahl. Nach den langen Strukturen, den braven Vergleichen, den trockenen Länder- oder Herrschergeschichten keimt wieder der Mut zum Sturm auf die Gipfel der Vergangenheit. Doch sofort der kritische Blick: Wer ersteigt welche Berge?
Beide Bücher – für ein breiteres Publikum gedacht – unterscheiden sich beträchtlich. Die Differenzen offenbaren verschiedene Rückwege in die Vergangenheit, die changierenden Wertesysteme, den wechselvollen Nutzen von Geschichte. Zunächst der erste Eindruck: Das eine Buch ist von einem Autor aus einem Guß geschrieben, das andere von einem ganzen Team von Kennern mit sehr uneinheitlicher Begabung, ein Ereignis vor den Augen der Leser erstehen zu lassen. Manche Artikel erzeugen im Abstand die richtige Spannung, andere verlieren sich so begierig in belehrenden Voraussetzungen und Umständen, daß die letzte Puste zum Höhepunkt auf der Strecke bleibt. Dem geschickten und leserfreundlichen Blick Kaufholds entgeht das Eigentliche dagegen nicht.
Gespannt entdeckt man Unterschiede. Scheibelreiter präsentiert mit seinen Autoren in 15 Kapiteln das Merkwissen eines im wesentlichen abendländisch-deutschen Mittelal?ters von der Bekehrung Chlodwigs über Kaiserkrönungen Karls des Großen, Ottos des Großen, über die Eroberung Jerusalems, den Mainzer Hoftag 1235, die Entstehung von Stadt und Universität, die „Goldene Bulle“ bis zur Erfindung des Buchdrucks. Kaufhold läßt sich in seiner Auswahl von eigenen Forschungsinteressen, vor allem aber von Ereignissen europäischen Zuschnitts zwischen Karls Kaiserkrönung 800 und der Entdeckung Amerikas 1492 leiten. Sein Buch bietet überraschende Kapitel (Prägung des ersten Goldflorins 1252, Fertigung der Paradies-türen in Florenz 1429–1452); es bleibt vor allem dem Vorrang eines päpstlichen Europa verpflichtet, ohne Canossa eigens zu würdigen.
Man könnte den Sammelband Scheibelreiters als gediegen erwartbar mit guten neuen Einsichten, das Buch Kaufholds als manchmal überraschend bezeichnen. Über die Auswahl, das wissen der Herausgeber und der Autor, ließe sich streiten. Frühere Versuche hätten Kaiser Otto III. und seine Gnesen-Reise nicht ganz ausgeklammert. Auch Kaiser Friedrich Barbarossa könnte sich mit seinem welfischen Kontrahenten Heinrich dem Löwen grämen, daß er in den mittelalterlichen Höhepunkten mit einem eigenen Artikel gar nicht mehr, in den Wendepunkten nur noch als Verlierer gegen die lombardischen Städte 1183 vorkommt. Deutsch oder europäisch – das hätte es früher nicht gegeben! Generationen deutscher Dichter oder Historiker schrieben vormals die Barbarossa-Zeit in die Glanz- und Höhepunkte der Weltgeschichte. So wandelt sich die historische Lust am Mittelalter, dem wir unsere neuen Höhe- und Wendepunkte aufpfropfen. Die Toten müssen das aushalten. Sie sollten froh sein, daß wir ihren Wert für die Weltgeschichte immer noch taxieren. Die beiden neuesten Versuche sind gut geschrieben und machen Lust auf Mittelalter.
Rezension: Schneidmüller, Bernd