Der Potsdamer Zeithistoriker Manfred Görtemaker widmet sein neuestes Buch einer der bekanntesten und zugleich mysteriösesten Führungsfiguren des „Dritten Reiches“: Rudolf Hess (1894 –1987). Um kaum eine Person ranken sich so viele Mythen und Legenden: Vom England-Flug 1941 bis zum Tod in der Haft. Görtemaker macht sich daran, Licht ins Dunkel zu bringen, und hat zu diesem Zweck in jahrelanger Arbeit mehr als 20 Archive im In- und Ausland durchforstet. Diese Leistung merkt man dem Buch an, das stets sachlich und dicht an den Quellen entlang erzählt ist. Wer also war Hess, und was hatte es mit seinem berüchtigten Flug im Jahr 1941 auf sich?
Der als Auslandsdeutscher geborene Hess verließ sein Geburtsland Ägypten zur Ausbildung und gelangte so ins Reich. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs meldete er sich begeistert freiwillig, diente zunächst als Soldat und wurde schließlich zum Jagdflieger ausgebildet. Die Kriegsniederlage erlebte er als Zusammenbruch seines Wertesystems. Nach dem Krieg bewegte er sich in München im Umfeld des Geopolitikers Karl Haushofer und rechtsradikaler, gewaltaffiner Verbände. Hier traf der zunehmend zum Antisemiten avancierende Hess sowohl seine zukünftige Frau Ilse, die in politischen Fragen ganz ähnlich dachte, als auch Adolf Hitler, dessen Aura Rudolf und Ilse bald erlagen.
Hess nahm am Novemberputsch 1923 teil und verbrachte nach dessen Scheitern die Haft gemeinsam mit dem „Führer“. Diese Zeit hatte offenbar keine resozialisierende Wirkung, denn Hess blieb auch danach Hitler treu, an dessen baldigen Aufstieg zur Macht er erstaunlich unerschütterlich glaubte. Nach 1933 zog Hess als „Stellvertreter des Führers“ in die Elite des „Dritten Reiches“ ein. Hess war damit wichtiger Teil der sich etablierenden Diktatur. Einen Gedanken verfolgte er stets weiter, nämlich die Vorstellung, man könne mit den „rassisch“ verwandten Engländern einen Ausgleich finden, der den Deutschen den Kontinent und den Briten ihr Empire überlasse. Als sich ein Zweifrontenkrieg abzeichnete, fühlte er sich zum Handeln berufen. Hess glaubte offenbar, er allein könne Hitlers ursprüngliche Idee eines Ausgleichs verwirklichen, indem er persönlich in England einen Deal aushandelte. Hess bereitete seinen Flug akribisch vor und musste nach seiner Bruchlandung in Schottland schockiert feststellen, dass hieran keinerlei Interesse bestand. Seit 1941 war Hess Gefangener der Alliierten. Im Nürnberger Prozess wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt.
Obwohl es zahlreiche Initiativen gab, ihn zu begnadigen, blieben alle Bemühungen vergeblich. 1987 beging Hess schließlich Suizid. Bis zum Ende war er seinen Überzeugungen treu geblieben und zeigte keinerlei Reue. In der Öffentlichkeit blieb er als Objekt von Verschwörungstheorien präsent und dient(e) der Neonazi-Szene als Symbol. Wer das flüssig geschriebene und überzeugend argumentierende Buch liest, wird nicht nur mehr über Rudolf Hess, sondern auch über das „Dritte Reich“ und seine Nachgeschichte lernen.
Rezension: Dr. Sebastian Rojek
Manfred Görtemaker
Rudolf Hess
Der Stellvertreter. Eine Biographie
Verlag C. H. Beck, München 2023, 758 Seiten, € 38,–