Einer der höchsten Grundsätze im Christentum ist die Nächstenliebe. Und so stellt man sich immer wieder fassungslos die Frage, wie die katholische Kirche, die diesen Grundsatz predigt, zugleich derart gravierende Fehler im Umgang mit sexuellem Missbrauch machen kann. Zu den Missbrauchsfällen wurde bereits viel geschrieben. Jetzt liegt eine Studie aus der Sicht eines Zeithistorikers vor, die sich dieses schwierigen Themas annimmt.
Thomas Großbölting, Leiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, hat sich vorgenommen, die Vorgänge dem wissenschaftlichen Anspruch nach „sine ira et studio“, ohne Zorn und Eifer, zu beschreiben. Dieser Vorsatz ist ambitioniert, bei den Erkenntnissen, die der Historiker auf Grundlage von Zeitungsartikeln, Betroffenenberichten, medizinischen, psychotherapeutischen, kriminalistischen und theologischen Studien sowie eigener Forschung zusammenträgt. Er zeigt, wie die Kirche Fälle vertuschte, wie man Betroffene zum Schweigen brachte, wie man Geistliche immer wieder an andere Orte versetzte, an denen sie weitere Taten begingen. Dabei wird deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle handelte, sondern dass die kirchlichen Strukturen diese Taten möglich machten. Eine lesenswerte Studie, die das Ausmaß des Missbrauchs aus historischer Perspektive beleuchtet.
Rezension: Anna Joisten
Thomas Großbölting
Die schuldigen Hirten
Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2022, 288 Seiten, € 24,–