Der „Kindermord von Bethlehem“ ist eine reine Erfindung, und doch ist nur durch ihn die Erinnerung an Herodes, den langjährigen jüdischen König (40–4 v. Chr.), noch lebendig. Dieses Faktum macht ihn zu einer tragischen Gestalt: Ein König, der so erfolgreich war, so unermüdlich Zeit seines Lebens daran arbeitete, einzigartige Denkmäler seiner Regierung zu hinterlassen, lebt im Bewußtsein der Nachwelt nur noch als argwöhnischer, blutrünstiger und perfider Tyrann fort wegen einer Tat, die er gar nicht begangen hat. Er war und ist, so ein schönes Wort aus der neuen Biographie von Linda-Marie Günther, „der Exponent der Alterität“.
Die Autorin läßt ein ganz anderes Licht auf diese schillernde Gestalt fallen; sie sieht sie als „letzten hellenistischen Herrscher“. Das ist hier stärker betont als eine gänzlich auf Rom bezogene und von Rom abhängige Handlungsweise, wie sie neuerdings ins Feld geführt wird. Unsere Hauptquelle, den jüdischen Historiker des 1. Jahrhunderts Flavius Josephus, den sie ausführlich zitiert, bearbeitet sie gründlich und kritisch, und dabei ist ein von einfühlsamem Verstehen geprägtes Buch herausgekommen.
Die zahlreichen Konflikte, die Herodes geradezu magnetisch an sich zu ziehen schien, seine scheinbar übergroße Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Familie, der vorgebliche Haß „der“ Juden – das Buch analysiert penibel alle tendenziösen Berichte des Josephus, macht Abstriche, verwirft sie als Fiktion oder sucht nach dem „historischen Kern“, entwirft auch Gegenbilder. Bewertungen des Charakters oder die Frage, ob Herodes Mariamne liebte oder nicht, werden beiseite gelassen. Es entsteht ein anderer, nicht idealisierter und nicht dämonisierter, in seiner Zeit durchaus ungewöhnlicher, erfolgreicher, dabei höchst umstrittener Herodes. Er war eben nicht (nur) der „König von Israel“ (Schalit), sondern ein ambitionierter jüdischer König eines römischen Klientel-Reichs mit äußerst heterogener Untertanenstruktur. Seine Politik war eingebettet in hellenistische Traditionen: Den griechischen Poleis der Ägäis trat er als Wohltäter gegenüber ebenso wie den jüdischen Diaspora-Gemeinden als Garant ihrer Rechte vor Rom; den römischen Generälen und dem Kaiser war er in jeder Beziehung zu Diensten, und den Juden zu Jerusalem verschaffte er mit einem gewaltigen Umbau den vielfach gerühmten und wirklich jüdischen Tempel.
Dieselben hellenistischen Traditionen erklären ferner die Konflikte in der Familie, mit den Juden oder mit den Nabatäern – so verlieren sie viel von ihrer Ausnahmestellung. Herodes der Große? Vielleicht nicht – aber daß er zu den „großen Männern“ zählte, wird man nach der Lektüre dieses wichtigen Buches nicht mehr bestreiten wollen.
Rezension: Baltrusch, Ernst