Ein Augenschmaus mit farbenprächtigen, hervorragend reproduzierten, großformatigen Abbildungen ist das Buch „Heilige Pracht“. Von 45 Bibeln aus dem 5. bis 17. Jahrhundert sind jeweils mehrere Seiten wiedergegeben; bestenfalls zwei davon könnte man in Ausstellungen sehen. In diesem Buch darf der Liebhaber sie betrachten, ungestört durch Publikumsbetrieb und Panzerglas; in Ruhe kann er blättern und vergleichen, innehalten und sich vertiefen.
Künstler haben, von der Bibel ausgehend, Gott, Engel und Teufel, Heilige und Menschen dar‧gestellt, Tiere, Fabelwesen und Pflanzen, Symbole und Herrschaftszeichen, Betten und Kleidung, Musikinstrumente und Schmuck, Waffen und Werkzeuge. Obwohl Gott gegenüber höchste Ehrfurcht geboten war, haben Zeichner sich gern der Freude am Spielerischen hingegeben. Gekonnt haben sie Gesichtszüge, Hände und Körperhaltung getroffen, aber die Ohren mit gekrümmten Linien nur angedeutet.
Oft ist der schreibende Evangelist dargestellt: Er sitzt bequem auf einem Kissen, die Füße ruhen auf einem Bänkchen, Schreibgeräte und Tinte hat er in Reichweite, eine Hängelampe beleuchtet seinen Arbeitsplatz. Vor allzu beschaulicher Einschätzung bewahrt eine Ergänzung aus dem 11. Jahrhundert: „Wie lieb dem Seemann der Hafen ist, so dem Schreiber die letzte Zeile“. Man meint, ein Aufatmen des anonym Gebliebenen zu hören, bevor er den Leser um Aufmerksamkeit und Gedenken bittet; gern erfüllt man seinen Wunsch.
Die Autoren, international anerkannte Fachleute der British Library in London, erläutern das Gesamtwerk und die einzelnen Handschriften: die Entstehung des christlichen Bibelkanons, den Übergang von der antiken Schriftrolle zu der uns vertrauten Kodexform sowie die Verwendung des Werkes im Gottesdienst, zum persönlichen Gebet oder als Statussymbol. Man erfährt etwas über Auftraggeber, Vorbilder und Symbolik, über künstlerische Aspekte wie Federzeichnung und flächige Malerei, über die Entstehung von Bibeln in Äthiopien, Byzanz und Syrien, vor allem aber in Europa. Unsicherheiten bei der Deutung von Einzelheiten werden freimütig eingeräumt. Literaturangaben laden zu weiteren Forschungen ein, denn die Internationale der Gelehrten arbeitet weiter an und mit der Bibel.
Für weitere Auflagen gibt der Rezensent zu bedenken: Reproduzierte Texte in weniger vertrauten Sprachen und Schriften wie Armenisch, Äthiopisch, Griechisch, Mittelfranzösisch, Slawisch sollten in Beispielen transkribiert werden – an Platz fehlt es nicht. Dasselbe gilt für zwischen den Zeilen eingefügte Anmerkungen, die Interlinearglossen. Einem in die Reproduktion eingeblendeten Maßstab könnte der Betrachter die Größenverhältnisse entnehmen. Und schließlich: Das Auffinden von Einzelheiten in den Erläuterungen sollte künftig erleichtert werden.
Rezension: Prof. Dr. Norbert Ohler