Als 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, gab es das Bundesministerium für Gesundheitswesen noch nicht. Allein diese Aussage wirft für den geschichtsinteressierten Leser viele Fragen auf: Wie sah es mit solch einem Ministerium in der Zeit des Nationalsozialismus aus? Für wie wichtig wurde Gesundheit in der Bundesrepublik erachtet? In welcher Form wurde Gesundheitspolitik betrieben? Wann kam es zu einem Wandel und warum? Das Ziel des Autorenteams Lutz Kreller und Franziska Kuschel ist es, all jene und noch viele weitere Fragen zur
Geschichte des Bundesministeriums für Gesundheitswesen zu beantworten.
Im ersten Kapitel fragen die Autoren nach den Wurzeln des Ministeriums. Sie machen deutlich, dass mit der Entstehung des Grundgesetzes dem Bund für die Gesundheitspolitik im Sinn der konkurrierenden Gesetzgebung enge Grenzen gesetzt wurden. Erst 1961 wurde die vormals ins Innenministerium integrierte Gesundheitsabteilung von einem eigenständigen Ministerium abgelöst. Dies war zwei Umständen geschuldet: Zum einen forderte die Opposition seit längerem ein solches Ministerium. Davon unabhängig, wurden in der CDU Stimmen laut, die reklamierten, dem nächsten Kabinett müsse eine Frau angehören. Das berücksichtigte Adenauer zunächst jedoch nicht. Erst als der innerparteiliche Protest größer wurde, entschied er sich, nicht einen männlichen Minister abzuberufen, sondern das Bundesministerium für Gesundheitswesen zu gründen und mit Elisabeth Schwarzhaupt eine Frau zur Ministerin zu ernennen.
Im anschließenden Teil werden das Personal und die Einstellungspraxis des Ministeriums näher vorgestellt. Neben einer detailreichen Auswertung von Geschlechts- und Altersstruktur fokussieren sich die Autoren auf die NS-Vergangenheit der Mitarbeiter. Sie können zeigen, dass im Jahr 1962 etwa 68 Prozent der Mitarbeiter früher der NSDAP angehört hatten. Das ist eine ähnliche Größenordnung wie in anderen Ministerien zu jener Zeit.
Das dritte Kapitel ist den prägenden Inhalten der Gesundheitspolitik in den 1950er und 1960er Jahren vorbehalten, wozu standesrechtliche Fragen der Ärzteschaft, der schwierige Umgang mit dem Thema Sterilisation und auch diverse Präventionsstrategien im Kampf gegen Krebs und Herz-Kreislauf-Krankheiten gehörten. Insbesondere in Letzteren zeigte sich die für das Buch titelgebende Verschiebung vom „Volkskörper“ zum Individuum.
Behördengeschichten haftet häufig der Makel an, dröge und langatmig zu sein. Lutz Kreller und Franziska Kuschel zeigen in dieser Studie allerdings eindrücklich, dass es durchaus auch anders geht, indem sie biographische und thematische Zugänge zum Thema miteinander verweben und so in einen sinnvollen Einklang bringen. Als Leser erfährt man nicht nur viel aus dem Mikrokosmos des Gesundheitsministeriums, sondern auch eine Menge über den Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus und komplexe Aushandlungsprozesse zwischen Bund, Ländern und der Ärzteschaft auf dem Feld der Gesundheit.
Rezension: Dr. Pierre Pfütsch
Lutz Kreller/Franziska Kuschel
Vom „Volkskörper“ zum Individuum
Das Bundesministerium für Gesundheitswesen nach dem Nationalsozialismus
Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 368 Seiten, € 36,–