Manchmal fragt man sich, wie es die USA schaffen, seit dem Zweiten Weltkrieg eine Weltmacht zu sein – und dies ungeachtet zahlreicher Herausforderungen wie durch die Sowjetunion einst und durch China heute, trotz katastrophaler Kriege wie in Vietnam und Afghanistan. Oder warum das Land ungebrochen das Ziel von Hunderttausenden von Migranten ist, bestehen doch zwischen Bangor, Maine und Mendocino, Kalifornien, oft himmelschreiende soziale Ungleichheiten, sind vielfach Löhne niedrig und Sozialleistungen frugal, tauchen schwerbewaffnete Irrsinnige mit halbautomatischen Waffen in Schulen, Kirchen und Einkaufszentren auf, um medienwirksam Mitmenschen zu massakrieren.
Das exzellent geschriebene neue Werk des an der Universität Heidelberg lehrenden Professors für Amerikanische Geschichte, Manfred Berg skizziert primär den innen- und gesellschaftspolitischen Weg der USA von 1950 bis heute. Es ist vor allem, wie Berg einleitend deutlich macht, eine Geschichte der Polarisierung. Dieses Charakteristikum der amerikanischen Gesellschaft ist in der Gegenwart von besonderer Prägnanz, da sich im Wahljahr 2024 die beiden Lager ohne nennenswerte Schnittmengen scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen. Wie in einem solchen Jahr kaum anders zu erwarten, spielt Donald Trump, als „Chaos-Präsident“ tituliert, eine entscheidende Rolle im Narrativ. Für Berg ist er die Personifizierung der Krise, in welche die amerikanische Demokratie geraten sei. Nie wurde diese Krise so sichtbar wie am 6. Januar 2021, als ein von Trump inspirierter Mob das Kapitol stürmte.
Die faszinierende Saga von Protesten, Reformen – wie vor allem die Bürgerrechtsgesetzgebung durch den allzu oft geschmähten Präsidenten Lyndon B. Johnson – und Konflikten reicht von den ersten mutigen Schritten zur Überwindung der Rassendiskriminierung mit Persönlichkeiten wie Rosa Parks und Martin Luther King über die Vietnam-Proteste der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, lässt die „Malaise“ unter Präsident Jimmy Carter ebenso wieder aufleben wie die konservative Revolution Ronald Reagans, das scheinbare Happy End einer laut Francis Fukuyama an ihr Ende gekommenen Geschichte in der Clinton-Ära bis in das gegenwärtige Zeitalter der Instabilität und der neuen Kriege. Berg warnt eindrücklich vor den Gefahren des Rechtspopulismus, der „populistischen Revolte, die in Nordamerika und Europa die liberale Demokratie in Frage stellt“ (der Terminus „Linkspopulismus“ taucht auf den rund 550 Seiten nur zweimal auf, und dies in Verbindung mit einem liebenswerten Politkauz, Bernie Sanders). Und wie zu erwarten, kommt es zu einer leicht belehrend klingenden Mahnung hinsichtlich der Wahl 2024: „Vor allem wird es darauf ankommen, dass sich die Amerikaner vor Augen führen, was auf dem Spiel steht.“
Man mag sich daran erinnern, dass Polarisierung in den USA nicht erst seit 1950 existierte, sondern Teil der amerikanischen Seele seit den Gründertagen ist, als die Patrioten (die für die Unabhängigkeit kämpften) die Loyalisten (die sich der englischen Krone verbunden fühlten) vielfach mit einer Brutalität malträtierten und ins Exil zwangen, die wenig zu den hehren Worten der Unabhängigkeitserklärung (… the pursuit of happiness …) passte. Und letztlich erlebte die amerikanische Nation die schlimmstmögliche Polarisierung, den Bürgerkrieg der Jahre von 1861 bis 1865 mit mehr als 800 000 Toten. Berg tut gut daran, an ein Zitat Winston Churchills zu erinnern: Die Amerikaner tun am Ende immer das Richtige, nachdem sie zuvor alle übrigen Möglichkeiten ausprobiert haben. Vielleicht gilt das auch im Jahr 2024.
Rezension: Dr. Dr. Ronald D. Gerste
Manfred Berg
Das gespaltene Haus
Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von 1950 bis heute
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 544 Seiten, € 35,–