Für alle, die sich für Japan im 19. Jahrhundert interessieren, ist dieses Buch ein Leckerbissen: Die US-amerikanische Historikerin und Japan-Spezialistin Amy Stanley bringt uns die Geschichte von Tsuneno nahe, einer jungen Frau vom Land, die sich 1830 auf den Weg nach Edo machte, wie Tokio damals hieß. Ihre Briefe von dort an die Familie, die Stanley ausgegraben und in acht Jahren übersetzt und analysiert hat, geben nicht nur über Tsunenos oft schwieriges Leben Auskunft, sondern bieten zugleich einen alltagsgesättigten Einblick in das turbulente Stadtleben mit seinen großen sozialen Gegensätzen.
Mit ihren anschaulichen Schilderungen versetzt uns die Autorin zunächst in die Kindheit und Jugend der Protagonistin, deren Familienleben in der Provinz Echigo durch den Buddhismus geprägt war. Nach dem Scheitern ihrer Ehe zog es Tsuneno nicht nach Hause zurück – sie lockte ein unabhängigeres Dasein im glanzvollen Edo. Ohne Geld und zunächst ohne Aussicht auf Arbeit aber musste sie sich mühsam durchbeißen, bis ihr neuer Ehemann Samurai wurde und sie soziales Ansehen erlangte. Das alles liest sich mit Gewinn, doch schade ist, dass Stanley mit direkten Zitaten aus den Briefen Tsunenos geizt; gern hätte man mehr deren eigenen Worten gelauscht.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Amy Stanley
Tsunenos Reise
Eine moderne Frau im Japan des 19. Jahrhunderts
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 410 Seiten, € 26,–