Da ist zum Beispiel Anna S. Die 25-Jährige lebte 1925 im Wiener Elendsviertel „Bretteldorf“. Verheiratet war sie mit einem Gelegenheitsarbeiter, der das wenige Geld der Familie versoff und sie regelmäßig verprügelte. Als Anna S. schwanger wurde, war sie über ihre Situation so verzweifelt, dass sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschied. Bei einer Schneiderin ließ sie den illegalen Eingriff mit Hilfe eines Gummikatheters durchführen. So schilderte sie es der Polizei, als sie verhaftet wurde.
Anna S. ist nur eine von vielen Frauen, die ihrerzeit ungewollt schwanger waren, aber keine legalen Möglichkeiten hatten, diesen Zustand zu ändern. Dabei waren vor allem arme Frauen der Strafverfolgung schutzlos ausgeliefert, wie das Buch von Sylvia Köchl zeigt. Sie hat 49 Gerichtsfälle aus den Jahren von 1923 bis 1974 aus dem Wiener Stadt- und Landesarchiv ausgewertet. Anhand dieser Quellen skizziert sie die von Armut geprägten Lebensbedingungen der Frauen, sucht nach den Ursachen der ungewollten Schwangerschaften, beschreibt die illegalen Abtreibungen und geht zentralen Fragen rund um die Strafverfolgung nach. Eine Auswahl der Gerichtsakten hat die Autorin zu ausführlichen Fallgeschichten verarbeitet, die im letzten Teil des Buches wiedergegeben werden. Sie ermöglichen bedrückende Einblicke in Frauenschicksale des untersuchten Zeitraums.
Rezension: Dr. Anna Joisten
Sylvia Köchl
Delikt Abtreibung
Frauenarmut, ungewollte Schwangerschaften und illegale Abbrüche
Mandelbaum Verlag, Wien 2024, 254 Seiten, € 22,–