Die Bedeutung von Flüssen in der Antike (wie in späteren Epochen) ist unbestritten. Sie bilden Lebensadern, Transferrouten und politisch-naturräumliche Grenzmarkierungen; sie bringen Wohlstand und Frieden genauso wie Tod (durch Überschwemmungen) und Krieg. Insofern liegt es mehr als nahe, über einen längeren Beobachtungszeitraum nach ihrer Wahrnehmung durch die antiken Zeitgenossen in Kunst und Literatur zu fragen.
Der von Kay Ehling und Saskia Kerschbaum herausgegebene Sammelband bietet instruktive Antworten, die von der Frühzeit Mesopotamiens bis in die Spätantike reichen. Durchweg gelingt es den Einzelbeiträgen, den historisch-politischen und hydrologisch-geographischen Sachhintergrund mit interpretierenden Beobachtungen zur episch-mythischen, symbolischen sowie historiographischen Darstellung der großen Ströme harmonisch zu verbinden. Während die ersten Kapitel didaktisch klug mit Euphrat und Tigris sowie dem Nil als den berühmtesten, jeweils eine ganze Kultur prägenden Flusssystemen beginnen, wenden sich die folgenden Beiträge Schritt für Schritt nach Westen. Behandelt werden der Orontes, dann die Welt der kleinasiatischen und griechischen Flüsse (inklusive des mythischen Styx und seiner unterschiedlichen geographischen „Realverortungen“). Die Beiträge widmen sich dann über die großen nordwestasiatischen Ströme (Borysthenes und Donau) der Mosel, dem Rhein und den unter römischer Herrschaft stehenden Flüssen des Westens (einschließlich des Tiber) und nähern sich chronologisch der späten Kaiserzeit. Als wesentliches Medium wird neben der Literatur praktisch jedes aussagefähige Zeugnis der Kunst ausgewertet, vor allem die Münzprägung, aber auch Gemmen sowie die den Flussgöttern gewidmete Plastik und monumentale Reliefs.
Dabei wird deutlich, welchen ehrfürchtigen Respekt die Menschen ihren Flüssen zollten, wie sie deren lebensnotwendige, aber auch bedrohliche Gewalt für sich zu vereinnahmen suchten (etwa indem man Flüsse zu Stammvätern von Heroengeschlechtern erklärte), wie aber auch umgekehrt die Überschreitung, Bezwingung und logistische Nutzung von Flüssen als ultimatives Zeugnis imperialen Erfolges geltend gemacht und, besonders von den römischen Kaisern, ideologisch ausgeschlachtet wurden. Erstaunlich ist und bleibt, dass sich offensichtlich – das ist eine der vielen wichtigen Einsichten – über die Jahrtausende so etwas wie ein Kanon an Darstellungs- und Interpretationsmustern einspielte, der immer wieder, auch unter veränderten politischen Umständen und in verschiedenen genera, abgerufen, ergänzt und modifiziert werden konnte, und das über die Antike hinaus, wie zwei abschließende Beiträge zeigen. Insgesamt bekommt der Leser einen erhellenden, im besten Sinn bildenden Sammelband an die Hand, der, mit reichemsowie sinnvoll in den Text eingebundenem Bildmaterial ausgestattet, auch den Augen eine Freude ist.
Rezension: Prof. Dr. Raimund Schulz
Kay Ehling/Saskia Kerschbaum (Hrsg.)
Göttliche Größe und gezähmte Gewalt
Vom babylonischen Euphrat bis zum römischen Rhein
wbg Philipp von Zabern, Darmstadt 2022, 176 Seiten, € 60,–