Dass das Rad eine der wichtigsten Erfindungen des Menschen war, wird niemand bestreiten. Doch wo wurde diese Erfindung gemacht, welche Folgen hatte sie, und wie beeinflusste sie die machtpolitisch-militärische und kulturelle Entwicklung der alten Zivilisationen? Diesen Fragen widmet sich der durch zahlreiche andere Veröffentlichungen ausgewiesene Autor auf rund 190 Seiten, sachlich souverän, sprachlich verständlich und jederzeit mit dem Blick für das Wesentliche.
Ein Kernargument: Das Rad wurde nur dort zum Transport- und Kampfinstrument (als Streitwagen) weiterentwickelt, wo die geographisch-ökologischen Umstände einen sinnvollen Einsatz erlaubten. Deshalb – so die durch linguistische und archäologische Befunde untermauerte Argumentation – seien die frühesten vierrädrigen Transportwagen (Kastenwagen) und insbesondere der von Pferden gezogene Streitwagen nicht im Vorderen Orient entstanden – sie wären im sandigen Untergrund eingesunken –, sondern in den nördlichen Steppengebieten und dort, wo nomadische Ethnien auf agrarische Kulturen stießen: im Donaugebiet und in der südlichen Kaukasus-Region, die übrigens auch im religiösen und wirtschaftlichen Bereich eine der dynamischsten Kontaktzonen der antiken Weltgeschichte bildete. Von dort hätten sich dann zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. technisch immer ausgefeiltere Modelle des Streitwagens praktisch in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet, nicht nur zeitversetzt gen Westen bis in das spätere Keltengebiet, sondern auch in den Vorderen Orient und nach Ägypten, ferner nach Nordindien und China, wo Gräber der Shang-Dynastie Streitwagenreste aufweisen.
Träger dieser nicht nur die Militärtechnik, sondern auch das Selbstverständnis der politischen Eliten revolutionierenden Innovation waren indoeuropäische Kriegergruppen, die als „Streitwagenleute“ teilweise selbst in den von ihnen aufgesuchten Gebieten die Macht übernahmen (wie im nordmesopotamischen Mitanni und in Nordindien), teilweise aber wohl auch als Söldner und Händler einsickerten. Die Erinnerung an das vornehmste Kampfinstrument blieb selbst dort lebendig, wo es, wie in Griechenland und China, bald durch effektivere Infanteriearmeen oder Reiter ersetzt wurde.
Das Motiv des von einer Gottheit geführten und den Kämpfer schützenden Wagenlenkers findet sich von Griechenland bis Indien und sogar in der keltischen Sagentradition. Von hier aus schlägt das Buch abschließend einen großen Bogen von der weitverbreiteten religiösen, rituellen und philosophischen Symbolik des Rades bis zu seiner technischen Folgewirkung (Straßenbau) und Verwendung in nichtmilitärischen Kontexten (Schöpf- und Spinnrad). Es kann sogar erklären, warum selbst solche Kulturen wie die Mittel- und Südamerikas das Radsymbol im Rahmen der Zeitmessung nutzten, obwohl sie es als Transportmittel nicht kannten. Kurzum: Ein instruktiver, reichbebilderter Parforceritt, der nicht nur bildet und belehrt, sondern auch vielfach überzeugt und zum Nachdenken anregt. Was will man mehr?
Rezension: Prof. Dr. Raimund Schulz
Harald Haarmann
Die Erfindung des Rades
Als die Weltgeschichte ins Rollen kam
Verlag C. H. Beck, München 2023, 191 Seiten, € 20,–