Es gilt, sie wiederzuentdecken: die tschechische Journalistin und Übersetzerin Milena Jesenská, die vielen nur als Freundin Franz Kafkas bekannt ist. In ihrem Heimatland ist sie wegen ihrer stalinkritischen Haltung lange aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt worden. Eine jetzt erschienene Sammlung ihrer Feuilletons und Reportagen aus den Jahren 1919 bis 1939, die sie zuerst in Wien, dann in Prag verfasste, zeigt sie als genaue Beobachterin, bedeutende Sozialkritikerin und engagierte Vertreterin für die Rechte der Frauen.
Nach einem ausführlichen Vorwort der Herausgeberin Alena Wagnerová taucht man zunächst ein in die sozialen Abgründe der Donaumetropole. Getreu ihrem Motto, dass man am kleinen Detail das große Ganze erkennen kann, beschreibt Jesenská die Welt der Bettler, „Lumpenkinder“ und Straßenhändler, der kleinen Ganoven und Alkoholkranken. Lebhaft ist ihr Stil; sie spricht die Leser oft direkt an und fesselt so deren Aufmerksamkeit. Nach Prag zurückgekehrt, verfasste Jesenská politische Texte für führende tschechische Zeitungen. So beschreibt sie etwa hellsichtig die Situation im Sudetenland 1938 oder analysiert, warum Bauern im Gegensatz zu Arbeitern eher konservativ denken. Dann folgt das tragische Ende ihres Schaffens: Als linke Aktivistin wurde Jesenská 1939 von der Gestapo verhaftet, ins KZ Ravensbrück geschafft und 1944 ermordet.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Milena Jesenská
Prager Hinterhöfe im Frühling
Feuilletons und Reportagen 1919 – 1939
Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 416 Seiten, € 32,–