Wenn man jenseits der tristen Gegenwart die Vision einer idealeren Zukunft für die Menschheit entwickelt, dann begibt man sich ins Reich der Utopie. Der Kulturhistoriker Jost Hermand hat eine Vielzahl von utopischen Ideen deutscher „Vordenker und Vordenkerinnen“ zusammengetragen, von der Frühaufklärung bis in die unmittelbare Gegenwart. Dabei kommt es ihm nicht auf die großen „Staatsromane“ an, sondern auf kleinere Schriften, die ebenfalls auf Gesellschaftsveränderung dringen, sei es politisch, sozial oder ökologisch.
Dementsprechend findet der Leser Texte von Johann Gottlieb Fichte über den „geschlossenen Handelsstaat“ (1800), von Elfriede Friedländer über Sexualethik (1920) oder von Petra Kelly über die „grüne Zukunft“(1983). Gleich zu Beginn stößt man auf Unbekannteres, eine Schrift von 1727, die Irenaeus Hygiophilus (eigentlich Johann Daniel Kutte) verfasst hat. Er war ein protestantischer Theologe, der zum Katholizismus konvertierte. Der Autor ist davon überzeugt, dass „denen Männern keine Herrschafft über ihre Weiber gebühre“. Zwar stehe im Brief des Paulus an die Epheser (V,22), der Mann sei „des Weibes Haupt“, aber das bedeute nur, er sei ihr Berater. Wenn man aber den Frauen die „nötige Education“ ermögliche, dann könne sich ein, modern ausgedrückt, gleichberechtigter Austausch zwischen den Geschlechtern entwickeln. Bemerkenswert!
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Jost Hermand
Oasen der Utopie
Schriften deutscher Vordenker und Vordenkerinnen
Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2021, 212 Seiten, € 35,–