Ilse Groß, die Tochter eines jüdischen Weinhändlers aus Bingen am Rhein, war erst 14 Jahre alt, als sie ihre Familie verließ und nach Genf ging. Von dort aus emigrierte Groß 1938 nach England, wo sie sich zunächst als Haushaltshilfe verdingte. Ihre in Deutschland zurückgebliebene Familie indessen überlebte den Holocaust nicht. Sieben Jahre nach dem Kriegsende erlebte Groß in England ihren Durchbruch als Schriftstellerin. Von ihrer erschütternden Vergangenheit wusste da jedoch kaum jemand etwas. Ihre Werke veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Kathrine Talbot. Über das ihr widerfahrene Leid äußerte sie sich erst am Ende ihres Lebens.
Der Anglist Christoph Ribbat erzählt die bewegte und wenig bekannte Lebensgeschichte von Ilse Groß. Er stützt sich dabei auf Briefe, Tagebücher, autobiographische Texte, Interviews mit Zeitzeugen und historische Dokumente. Wer allerdings eine nüchtern-distanzierte, der Chronologie folgende Biographie erwartet, wird von dem Buch enttäuscht sein. Ribbat schildert das Leben seiner Protagonistin dramatisch in elf episodenhaften Kapiteln, die in der Zeit häufig vor und zurück springen. Viele Stellen geben detailreiche Einblicke in die Gefühlswelt von Groß, bei denen man nicht immer ganz sicher ist, ob die Quellen es hergeben. Es ist dennoch (und vielleicht auch gerade deshalb) eine fesselnde Lektüre, die man nur ungern aus der Hand legt.
Rezension: Anna Joisten
Christoph Ribbat
Wie die Queen
Die deutsch-jüdische Geschichte einer sehr britischen Schriftstellerin
Insel Verlag, Berlin 2022, 220 Seiten, € 24,–