Das mittelalterliche Jahrtausend schreckt ab oder zieht an und findet immer wieder Interesse. Einer der wichtigsten britischen Mediävisten legt jetzt eine neue Gesamtdarstellung vor. Chris Wickham weiß um die abschätzige Konstruktion des Mittelalters. Bei seiner Sympathie verfällt er aber nicht ins Gegenteil und präsentiert die Epoche keineswegs als verlorene Sehnsuchtswelt. Vielmehr gibt er der Zeit zwischen 500 und 1500 eine eigene Würde in Vielfalt und Wandel. Wer die 13 eindrucksvollen Kapitel gelesen hat, wird das Schimpfwort „mittelalterliche Zustände“ nicht mehr benutzen. Er hat dann nämlich eine ganz andere Welt kennengelernt.
Es gibt keinen Mangel an vergleichbaren Überblicksdarstellungen, die den politischen, kulturellen, religiösen, sozialen oder wirtschaftlichen Wandel des mittelalterlichen Jahrtausends in einem Buch bündeln. Doch dieser gelungene Band bietet einen besonderen „britischen Blick“. Das Bekenntnis zum Vorrang des Politischen durchzieht die Darstellung, die gleichzeitig mit wachem Gespür für soziale Bedingungen geschrieben ist. Diese vergangene Welt baute bei allen Verwandlungen stets auf Grundbesitz auf, lebte von den kargen und vielfach abgepressten Überschüssen einer bäuerlichen Bevölkerung, existierte in personalen Bindungen. Klar treten die im Vergleich zu heute sehr verschiedenen Ehrkonzepte oder Geschlechterbeziehungen hervor.
Anders als in manchen kontinentalen Büchern zum Thema entwirft der Verfasser sein mittelalterliches Europa nicht aus Zentrum und Peripherie, sondern aus miteinander verwobenen Zellen. Er folgt nicht einem beständigen universalen Dualismus von Kaiser und Papst. Vielmehr werden große Unterschiede und Veränderungen in den imperialen, frühnationalen oder religiösen Modellen herausgearbeitet. Wickham zeigt vor allem die nachhaltige Prägung des Kontinents aus seinen antiken Voraussetzungen. In Urbanität, Verkehr und Handel blieb die Rhein-Donau-Grenze des römischen Weltreichs bis weit über das Mittelalter hinaus eine bemerkenswerte Scheidelinie.
Für deutsche Leser ist dieses Buch ein stimulierender Entwurf, der gängige fränkisch-deutsche Leitlinien im traditionellen Mittelalter-Verständnis überwindet. Bei der Lektüre muss man sich an die Vorliebe des Verfassers für Sätze in Klammern gewöhnen. Und manche Schwerpunktsetzungen leben von Wickhams Forschungskompetenz zum Früh- und Hochmittelalter. Doch der kluge Verfasser bündelt tatsächlich das ganze Jahrtausend. Seine Faszination für das Engagement der damaligen Menschen gibt er eindrucksvoll an die Leser weiter.
Rezension: Prof. Dr. Bernd Schneidmüller
Chris Wickham
Das Mittelalter
Europa von 500 bis 1500
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018, 550 Seiten, € 35,–