Seit vielen Jahren beteiligt sich der an der Universität Konstanz lehrende Historiker Jürgen Osterhammel als Ideengeber an den Debatten um die Neuausrichtung einer „Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats“. Mit seiner umfangreichen Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts setzt er nun auf meisterhafte Weise Theorie in Praxis um – „nach dem Kochbuch die Küche”, wie er im Nachwort schreibt. Her-ausgekommen ist dabei ein opulentes und doch gut verdauliches, weil elegant komponiertes Menü für Genießer mit großem Wissenshunger.
Das Buch ist in drei große Teile untergliedert. Der erste Teil „Annäherungen” thematisiert zunächst die Selbstdeutungen und die „Medien” der Erinnerung. Besonders gelungen ist das Kapitel über die Zeit, in dem es um globale Wendepunkte, um Kalender und Uhren geht. Die Beschleunigung wird als ein Merkmal der Epoche herausgearbeitet.
Das 19. Jahrhundert ist bei Osterhammel zeitlich zum 18. und 20. Jahrhundert hin offen. Er unterteilt es in drei Zeitab-schnitte, eine Sattelzeit (1770 –1830), eine viktorianische Periode (1830–1880), in der sich zumindest in Europa die für das ganze Jahrhundert typischen Kulturerscheinungen ausprägten, und eine Phase, die das Jahrhundertende mit umfasst, mit Auswirkungen, die weit in die 1920er Jahre hineinreichten. Schließlich wird der Kategorie des „Raums” besondere Aufmerksamkeit zuteil, denn überall, zu Land, auf den Meeren oder in den Hafenstädten als Brückenköpfen, kommt es zu weltum-spannenden und grenzüberschreitenden Interaktionen. Das 19. Jahrhundert war eine Zeit räumlicher Verdichtung.
Der zweite Hauptteil bringt mit seinen „Panoramen” acht Wirklichkeitsbereiche im globalen Überblick: die Welt der Sesshaften und Migranten, Lebensstandards, Städte, Grenzen, Imperien und Nationalstaaten, Mächtesysteme, Revo‧lutionen und staatliche Ordnungen. In jedem dieser etwa 100 Seiten umfassenden Kapitel wird eine unglaubliche Fülle an Themen und Fakten ausgebreitet. Wer beispielsweise im Kapitel über die Lebensstandards über die Verlängerung der Lebenserwartung, über Seuchenängste und Naturkatastrophen, über Hungerkrisen und die Revolutionen in der Landwirtschaft, über den Gegensatz zwischen Arm und Reich und das weltweite Konsumverhalten ge‧lesen hat, wird die These des Autors, dass es im 19. Jahrhundert überall zu einer substantiellen Verbesserung der materiellen Lebensumstände gekommen ist, gut nachvollziehen können. In allen Kapiteln ordnen Passagen mit systematischen Überlegungen die Vielfalt der Informationen. Verallgemeinerungen werden durch Anekdoten oder subtile Beobachtungen von Details ergänzt: Man wird belehrt und dabei gut unterhalten.
Im dritten Teil des Buchs wird auf sieben „Themen” eingegangen, zupackend und essayistisch im Duktus. Es geht etwa um Energie und Industrie, Arbeit, Hierarchien, Wissen, „Zivilisierung” und Ausgrenzung und zum Schluss um die Religion. Wie stark das 19. Jahrhundert das Zeitalter der Netzwerkbildung war, wird im entsprechenden Kapitel deutlich. Nach der Lektüre dieses bedeutenden Werks geht es einem wie nach einem langen, köstlichen Mahl: Man ist irgendwie erschöpft und doch mehr als zufrieden. Gäbe es einen „Michelin” der historischen Literatur, wäre das ein Buch mit drei Sternen.
Rezension: Prof. Dr. Wolfgang Schwentker