Wie die Deutschen die politische und moralische Katastrophe von NS-Herrschaft und Vernichtungskrieg überwanden, neue politische Ordnungen etablierten und, in der Bundesrepublik, Anschluß fanden an westliche Wertvorstellungen, beschäftigt die Forschung schon seit längerem. Dieser Frage ist nun auch Konrad Jarauschs Studie „Die Umkehr“ gewidmet, in der er die Aneignung zivilgesellschaft?licher Normen und Praktiken durch die Deutschen nach 1945 eingehend nachzeichnet. Dabei verknüpft er individuelle und kollektive Perspektiven und hat unter anderem die umfangreiche Sammlung Walter Kempowskis ausgewertet.
Entstanden ist daraus ein überaus spannendes und fundiertes historisches und zugleich politisches Buch. Jarausch identifiziert drei Schübe eines Lernprozesses: Führte die alliierte, insbesondere die amerikanische Politik nach 1945 zunächst zur Etablierung demokratischer Institutionen, in denen sich ein Bruch mit der autoritären Vergangen-heit deutlich niederschlug, so wurde in den 60er Jahren der „zweite Schritt im Rezivilisierungsprozeß“ getan. Denn nun erst wurde das formale Gehäuse der Bonner Demokratie mit Substanz gefüllt, was nicht allein den „68ern“ zuzuschreiben ist. Als 1989/90 mit der sowjetischen Hegemonie in Osteuropa auch die SED-Herrschaft zusammenbrach, konnten sich zivilgesellschaftliche Praktiken auch in der DDR etablieren, wo nach 1945 die sozialistischen Umwälzungen die ökonomische Basis der Zivilgesellschaft zerstört hatten. Gleichwohl waren auch dort schon vor 1989 kritische Minderheiten hervorgetreten und hatten der SED die Loyalität verweigert, was zur schleichenden Auflösung der Parteiherrschaft führte.
Die Vereinigung erscheint bei Jarausch als fundamenta?ler Umbruch, rührte sie doch an ein „doppeltes Tabu“ der Westdeutschen: die Teilung als eines der konstitutiven Elemente des Ost-West-Konflikts sowie die postnationale Identitätsbildung im Westen. Der längst vollzogene Abschied vom Nationalstaat sorgte dafür, daß zwar Großmacht-Ambitionen nach 1989/90 kaum formuliert wurden, die Deutschen jedoch nur unter großen Schwierigkeiten ihre neue Rolle in der Welt definieren konnten, wie Jarausch etwa an der Einwanderungspolitik belegt. Der historische Lernprozeß ist jedenfalls aus dieser anregenden Perspektive noch nicht abgeschlossen.
Rezension: Metzler, Gabriele