Die Schlacht von Stalingrad wird bis heute als deutscher Opfergang erzählt. Stalingrad steht für das Leiden und Sterben der Wehrmachtsoldaten an der Ostfront. 70 Jahre nach dem Ereignis ergänzt Jochen Hellbeck diese einseitige Sichtweise durch die sowjetische Perspektive. Mit den „Stalingrad-Protokollen“ veröffentlicht er Auszüge aus 215 Augenzeugenberichten, die eine Moskauer Historikerkommission noch während und unmittelbar nach den Kämpfen gesammelt hat, um auf deren Grundlage die Geschichte der Schlacht zu schreiben. Nach dem Krieg verschwanden die Protokolle jedoch im Archiv, und deren Existenz blieb bis heute weitgehend unbekannt.
Die „Stalingrad-Protokolle“ sind keine unproblematische Quelle, denn sie sind ein Produkt sowjetischer Geschichtspolitik. Die Kommandeure, Soldaten und Zivilisten berichten von ihren Erlebnissen, Gedanken sowie Gefühlen und liefern ein kontrastreiches Bild der sowjetischen Kriegserfahrung. Die Augenzeugen erzählen aber nicht nur vom Krieg. Ihre Berichte handeln auch vom Stalinismus und dem Beitrag des politischen Systems am Sieg.
Bei allen quellenkritischen Vorbehalten gegenüber Aussagen, die letztlich vom Regime selbst produziert worden sind, wird jedoch deutlich, dass die Mobilisierungsfähigkeit der stalinistischen Diktatur wesentlich zum Sieg beigetragen hat. Die Kosten einer Kriegführung, die auf Menschenleben keine Rücksicht nahm, sind den Protagonisten nicht entgangen, werden allerdings nicht hinterfragt, sondern als notwendig gerechtfertigt.
Aufschlussreich ist aber nicht nur, was die Augenzeugen vom Krieg berichten, sondern auch, wie sie es tun. Die Soldaten waren fortwährend dazu erzogen worden, in den Kategorien von Heldentum und Feigheit zu sprechen und zu denken. Die Moskauer Historiker trafen somit nicht nur auf Zeitzeugen, sondern auf Soldaten, die zentrale Kategorien des Stalin’schen Regimes verinnerlicht hatten. Die Langlebigkeit des heroischen Bildes vom „Großen Vaterländischen Krieg“, das bis heute nachwirkt, hat ihre Wurzeln in dieser Selbstkonditionierung. Die „Stalingrad-Protokolle“ zeugen somit nicht nur vom Alltag des Krieges, sondern auch von der Wirksamkeit von dessen Deutung durch die Sowjetunion.
Rezension: Prof. Dr. Jörg Ganzenmüller