Die Phönizier/Kanaanäer an der Levanteküste und ihre „Kolonien“ an der westlichen Mittelmeerküste haben einen entscheidenden Beitrag zum Zusammenwachsen der antiken Mittelmeerwelt geleistet. Gleichwohl sind die schriftlichen Überlieferungen nahezu vollständig untergegangen; hier klafft eine fatale Lücke im Quellenbestand der Geschichte des Altertums. Die Erforschung der Geschichte der Phönizier im 1. Jahrtausend v. Chr. basiert daher – abgesehen von den archäologischen Befunden – notgedrungen auf der Auswertung von Zeugnissen ihrer Nachbarn, von den Tatenberichten der Könige des neuassyrischen Reichs über die Texte im Alten Testament bis zu den griechisch-römischen Quellen.
Anders sieht es dagegen für die frühkanaanäische Phase an der Levante im 14./13. Jahrhundert aus, dank der Tontafel-Archive von Alalach und Ugarit. Sie eröffnen einen tiefen Einblick in das politische, gesellschaftliche und religiös-kulturelle Leben der Metropo?len an der Levante.
Michael Sommer stellt zu Recht die Entwicklungen in den phönizischen Stadtmonarchien als eigenständige Epoche heraus und verbindet sie fest mit den altorientalischen Hochkulturen – bis zum großen Umbruch um 1200, als die Macht Ägyptens und der vorderasiatischen Großreiche zerfiel. Auch für die Folgezeit bietet Sommers Buch eine klare Gliederung: vom Beginn einer weiträumigen, aber noch „präkolonialen“ See-Expansion um 1000 über die planmäßig betriebene Siedlungskolonisation im Westen von der Mitte des 8. Jahrhunderts an bis zum Aufstieg der Tochterstadt Karthago um 600 und der allmählichen Einbeziehung der Metropolen an der Levante in das neubabylonische und persische Großreich. Tyros’ Zerstörung durch Alexander den Großen bildet die entscheidende Zäsur.
In Sommers Darstellung stehen als bewegende Kräfte der historischen Entwicklung vor allem innere Faktoren und Probleme im Vordergrund. Kritik fordert hier etwa die These von einer im 1. Jahrtausend rasch voranschreitenden Entmachtung des traditionellen Stadtkönigtums durch eine Fernhändler-Aristokratie her-aus; die Ausbildung „republikanischer“ Magistrats- und Ratsordnungen im punischen Westen kann auch als Zeichen einer fortdauernden Unterordnung der fernen Tochterstädte unter eine nominelle Oberhoheit von Tyros verstanden werden. Nicht selten werden die Lücken in den Quellen durch Rückgriffe auf moderne historische und soziologische Theorien „aufgefüllt“ – von Max Weber über die „Annales“ bis zu Jan Assmann. Gleichwohl wird man diesem anspruchsvollen und sachkundigen Werk den Respekt nicht versagen können.
Rezension: Lehmann, Gustav A.