André François-Poncet war einer der einflussreichsten und besten Kenner Deutschlands unter den französischen Diplomaten des 20. Jahrhunderts. Sein Interesse am östlichen Nachbarn Frankreichs war bereits sehr früh entstanden. Das Studium der Germanistik in Frankreich führte François-Poncet unter anderem 1907 und 1908 nach Berlin und München, wo er sich vor allem für die deutsche Klassik interessierte.
Die sich anbahnende wissenschaftliche Karriere wurde durch den Beginn des Ersten Weltkriegs unterbrochen; François-Poncet war nun im Dienst des französischen Außenministeriums zuständig für die Analyse der deutschen Presse und Propaganda. Auch nach dem Krieg diente er den französischen Diplomaten als Analytiker der deutschen Politik, rückte aber auch östlich des Rheins bereits in den Blickpunkt des Interesses. „Man tut in Deutschland gut, sich den Namen François-Poncet zu merken“, schrieb ein deutscher Journalist der „Vossischen Zeitung“ bereits 1922.
Und wirklich: 1931 wurde François-Poncet zum französischen Botschafter in Berlin ernannt, wo er bis 1938 blieb. In
seine Zeit fielen daher der Zusammenbruch der Republik von Weimar und die Durchsetzung der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland. Von Berlin aus schrieb er regelmäßig Berichte über die Vorgänge in Deutschland, die vor allem auf der Auswertung der deutschen Presse, aber auch auf Gesprächen beruhten, die der Botschafter mit zum Teil führenden Repräsentanten des NS-Regimes führte.
Die von Jean-Marc Dreyfus nun erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Berichte schildern wichtige politische und gesellschaftliche Ereignisse in Deutschland während der 1930er Jahre. Sie zeigen einerseits das konservativ-republikanische Weltbild des Autors, andererseits aber auch seine literarischen Ambitionen. Insbesondere der Zusammenbruch der Weimarer Republik schockierte den französischen Beobachter. Die Selbstaufgabe des Parlaments mit dem „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933 war für ihn unfassbar.
Zudem stehen die wirtschaftliche und eng damit verbunden die militärische Entwicklung in Deutschland im Mittelpunkt. François-Poncet zeigte sich schon früh davon überzeugt, dass mit den Nationalsozialisten eine Gefahr für Frankreich und Europa entstanden war, ohne allerdings konkrete Vorschläge zu machen, wie diese Gefahr gebannt werden könnte. Und schließlich schilderte er präzise und sehr ausführlich die fortschreitende Ausgrenzung der deutschen
Juden zwischen 1933 und 1938. Vor allem der Antisemitismus des NS-Regimes war ihm sehr
zuwider.
Insgesamt entsteht so ein facettenreiches Bild Deutschlands in den 1930er Jahren. Ärgerlich ist der etwas reißerische Titel des Buchs. Selbstverständlich ist die diplomatische Korrespondenz geheim, aber bereits 1939 publizierte das französische Außenministerium einige Depeschen aus Berlin als „Livre jaune“. Die wörtliche Übersetzung des Titels der französischen Ausgabe „Les rapports de Berlin“ wäre daher angemessener gewesen.
Rezension: Prof. Dr. Guido Thiemeyer
Jean-Marc Dreyfus (Hrsg.)
Geheime Depeschen aus Berlin
Der französische Botschafter François-Poncet und der Nationalsozialismus
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2018, 256 Seiten, € 31,99