Wenn schon vor dem 7. Oktober 2023 eine Verunsicherung darüber vorherrschte, wann Handlungen als antisemitisch zu bezeichnen sind, so wird diese Frage aufgrund der gegenwärtigen politischen Situation umso drängender. Insofern ist es hilfreich, wenn neuere Darstellungen diesem Komplex nachgehen und versuchen, Licht in das Dunkel der Begriffsverwirrung zu bringen und die gegenwärtige Orientierungslosigkeit mit historischer Urteilskraft zu überwinden.
Dezidiert nutzt Sebastian Voigt im Titel seines Buches nicht den Begriff Antisemitismus, sondern den generischen Terminus Judenhass, und prägnant ist der Untertitel „Eine Geschichte ohne Ende“ mit einem Fragezeichen versehen. Im Klappentext des Verlags hingegen heißt es „Der Hass beginnt vor 2500 Jahren“. Schon in der Einleitung macht Voigt aber klar, dass der Judenhass im 19. Jahrhundert grundlegende Veränderungen durchgemacht hat. Die moderne Judenfeindschaft unterscheidet sich, wie Voigt betont, fundamental vom christlichen Antijudaismus. Entsprechend knapp, aber treffend, fallen die ersten beiden Kapitel über die Judenfeindschaft in der antiken Welt und im mittelalterlichen Deutschland aus.
Es folgt unter der Überschrift „Verschwörungen“ ein Abschnitt über Judenfeindschaft seit der Entstehung des Kapitalismus. Breiteren Raum widmet Voigt dem 19. Jahrhundert. Beginnend mit dem Frühantisemitismus und der Gewalt gegen Juden in der Revolution von 1848, stellt Voigt die Entstehung des Antisemitismus im Kaiserreich dar. In diesen Abschnitten wären indes vergleichende Hinweise auf den gravierenden Antisemitismus in Rumänien und die Pogrome in Russland erhellend gewesen. Auf die europäischen Dimensionen ist er lediglich kurz im Kapitel über die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg eingegangen.
Ausführlich schildert Voigt die Entwicklung des Antisemitismus in der Weimarer Republik sowie die „Ausgrenzung und Vernichtung“ durch das nationalsozialistische Deutschland. In seinen zur Gegenwart hin umfangreicher werdenden Abschnitten rekapituliert er etwa zentrale Kontroversen in Deutschland um den Antisemitismus. Die Herausbildung der neuen deutschen Erinnerungspolitik in den Dekaden um die Jahrhundertwende und die Herausbildung eines anti-antisemitischen Grundkonsenses thematisiert er allerdings kaum.
Kleinere Ungenauigkeiten und einige nicht korrekte Zuschreibungen können jedoch den positiven Gesamteindruck insbesondere der historischen Kapitel in keiner Weise beeinträchtigen. In diesen vermag Voigt die oft komplexen und verwirrenden Zusammenhänge prägnant und bündig darzustellen. Hervorzuheben ist insbesondere die fundierte Kritik am verbreiteten Topos der 2500-jährigen Geschichte des Antisemitismus, auf die Voigt dann jedoch in seinem Schlusswort selbst rekurriert. Erhellend ist ferner die klare Betonung des nicht-religiösen Charakters der modernen Judenfeindschaft. Da dieses an ein breites Publikum gerichtete Buch auch klar und deutlich geschrieben ist, kann es eine wertvolle Hilfe bei der Aufklärung über den Antisemitismus leisten.
Rezension: Prof. Dr. Ulrich Wyrwa
Sebastian Voigt
Der Judenhass
Eine Geschichte ohne Ende?
Hirzel Verlag, Stuttgart 2024, 232 Seiten, € 25,–.