Im Verlauf des 20. Jahrhunderts durchlebte Kambodscha wahrlich schwere Zeiten. Mehrmals wechselte das Land sogar seine Regierungsform. Nach einer fast 100 Jahre andauernden französischen Protektoratsherrschaft erhielt das Königreich Kambodscha 1953 seine staatliche Unabhängigkeit zurück. Auf die Friedenszeit unter Staatschef Norodom Sihanouk folgten sukzessive die Khmer-Republik Marschall Lon Nols, die kommunistische Zwangsherrschaft der massenmörderischen Roten Khmer, schließlich ein langjähriger Bürgerkrieg, der durch eine Invasion des Nachbarn Vietnam ausgelöst worden war. Erst seit 1993 fand Kambodscha wieder zu einer Normalität zurück. Das westliche Bild vom Land der Khmer – wie das Staatsvolk genannt wird – wurde durch diese turbulenten Ereignisse nachhaltig geprägt.
Dieses Bild jedoch bedarf der Korrektur. In jüngerer Zeit hat der Massentourismus das große kulturelle Erbe der Khmer in unser Gedächtnis zurückgerufen. Die Ruinen Angkor Wats, ein Weltwunder von einzigartiger Schönheit, ziehen den Besucher immer wieder in ihren magischen Bann. Auf dem Höhepunkt seiner Macht im 12. Jahrhundert erstreckte sich das Reich der Khmer auch über weite Teile des heutigen Thailand, über Laos und Vietnam. Sein politisches und religiöses Zentrum war Angkor, das nördlich des fischreichen Binnensees Tonle Sap unweit der Provinzhauptstadt Siem Reap liegt. Angkor (Sanskrit: nagara) bedeutet wörtlich „Stadt“. Der Name steht daher strenggenommen nicht für einen bestimmten Ort, sondern für ein sich über mehrere hundert Quadratkilometer erstreckendes Terrain, in dem die Khmer-Könige im Lauf von sechs Jahrhunderten immer wieder neue Hauptstädte erbauen ließen, während sie alte aufgaben.
Diesem Umstand trägt Stefano Vecchia in seinem Bildband Rechnung. Den prächtigen Tempelbauten in den diversen Hauptstädten und größeren provinziellen Zentren chronologisch folgend, schildert der Autor die politische und soziale Geschichte des Khmer-Reichs, die von Indien beeinflussten religiösen Vorstellungen der Khmer (Hinduismus, Buddhismus), aber auch verschiedene Aspekte der Alltagskultur.
Wie der nicht auf dem Cover angegebene Untertitel des Bandes, „Geschichte und Schätze einer alten Zivilisation“, andeutet, lebt Vecchias Werk von der Ausdruckskraft seiner Abbildungen. Eindrucksvolle Aufnahmen der Reliefs von Angkor Wat, der rätselhaften vierköpfigen Skulpturen des Bayon-Tempels, der Terrasse des „Lepra-Königs“ in Angkor Thom und unzähliger weiterer Baudenkmäler zieren den liebevoll aufbereiteten Bildband. Weniger zufriedenstellend ist der die Abbildungen kommentierende Begleittext. Dieser enthält nicht nur eine Reihe von Ungenauigkeiten (etwa praktizieren die Khmer heute nicht, wie behauptet wird, den Mahayana-, sondern den Theravada-Buddhismus), er reflektiert darüber hinaus nicht immer den neuesten Forschungsstand. Außerdem kontrastiert die ungewöhnlich kleine Buchstabengröße des Texts mit der aufwendigen Reproduktion der Abbildungen.
Trotzdem ist Vecchias „Die Khmer“ eine empfehlenswerte visuelle Einführung in Geschichte und Kultur Angkors, die Vorgeschichte und Niedergang mit einbezieht.
Rezension: Prof. Dr. Volker Grabowsky