Der Untertitel „Weltgeschichte einer Reformbewegung“ hätte sich ebenso als Titel für die große Luther-Ausstellung in Berlin geeignet, die den globalen Auswirkungen der Reformation nachspürt und den Protestantismus gleichsam als Motor des Fortschritts präsentiert. Genau diese Darstellungsweise aber empfindet Ulrich L. Lehner, Professor für Religionsgeschichte an der Universität Milwaukee (USA), in hohem Maße als einseitig und verzerrend. Mit seinem Buch will er an die vergessene Geschichte reformfreudiger Katholiken erinnern, die ebenso leidenschaftlich wie evangelische Christen für die Demokratisierung der Kirche und Werte der Moderne eintraten: für Gleichheit, Freiheit und Toleranz.
Sie begegnen ihm vor allem im 18. Jahrhundert, in der Epoche der Aufklärung. Es sind Menschen wie der Schweizer Priester Bernhard Ludwig Göldlin, der sich gegen die bestehende Verteufelung Andersdenkender zur Wehr setzte, der spanische Benediktinermönch Benito Jerónimo Feijoo, der 1726 in seinem Buch „Verteidigung der Frauen“ für die vollständige Gleichheit und Gleichwertigkeit von Mann und Frau eintrat, oder der in Mexiko geborene Missionar Francisco Javier Clavijero, der die mittelamerikanische Indianerkultur gegen die zahllosen Mythen und Irrtümer europäischer Intellektueller verteidigte.
Schon diese wenigen Beispiele zeigen nicht nur die Breite, sondern auch die Aktualität der Denkanstöße, die Lehner als „Experimente katholischen Fortschritts“ vorstellt. Er verschweigt dabei nicht den tiefen Hass, auf den solche Anschauungen innerhalb der eigenen, der römischen Kirche vielfach stießen. So empfahl der bayerische Dominikaner Thomas Aquin Jost 1779 in seinem Buch zur „Inquisition wider die Freygeister“, „diese Brut in allen Landen zu ersticken“, Atheisten „im Feuer zu verdammen“ und „alle gefährlichen Grundsätze“ der Aufklärer radikal aus dem Weg zu räumen.
Mit seinem Buch, dessen englische Originalausgabe 2016 erschien, bietet Lehner im Luther-Jahr eine andere, nicht minder interessante und nicht minder wichtige Globalgeschichte religiöser Aufbrüche und Reformen. Dass es vorrangig für den amerikanischen Leser geschrieben wurde, ist nur vereinzelt an den Spitzen gegen einen „arroganten Eurozentrismus“ zu spüren, dem die Welt Nord- und Südamerikas zum Teil noch genauso fremd sei wie den „Lehnstuhl-Gelehrten“ des 18. Jahrhunderts. Insgesamt liest sich das verständlich und anschaulich geschriebene Werk, das sich gezielt an eine breitere Öffentlichkeit wendet, ausgezeichnet. Vor allem aber zeigt es, dass die mit viel Sympathie behandelten Aufklärer nicht nur an eine Reform ihrer Kirche dachten, sondern bereits vor mehr als 200 Jahren fundamentale Fragen von Politik, Kultur und gesellschaftlicher Ordnung erörterten, die uns bis heute beschäftigen.
Rezension: Prof. Dr. Joachim Bahlcke