Historische Fragestellungen erwachsen aus der Gegenwart. Es ist daher gut und richtig, daß der Siedler Verlag unter dem Titel „Die Deutschen und das europäische Mittelalter“ den Versuch unternommen hat, seinen Lesern einen Blick auf die europäische Geschichte zu eröffnen, in der die nationalstaatliche Perspektive „aufgehoben“ (das heißt zugleich bewahrt und überwunden) ist.
Joachim Ehlers, inzwischen emeritiert und zuletzt an der Freien Universität Berlin lehrend, hat sich dieser Aufgabe für den Westen Europas gestellt. Die Antwort, die er gibt, ist höchst individuell. Entstanden ist nicht etwa, wie der Titel vermuten ließe, ein Überblick über die Geschichte Westeuropas zwischen 500 und 1500. Ehlers wählt gezielt aus und nimmt seine Leser mit auf eine Tour d’horizon durch die Aspekte der mittelalterlichen Geschichte, die im Mittelpunkt seiner eigenen Forschungen gestanden haben: die Entwicklung Deutschlands und Frankreichs aus dem Zerfall des fränkischen Großreichs, das Verhältnis von Reich und Nation, das West-Ost-Gefälle der kulturellen Entwicklung, die Entstehung der spezifisch europäischen Freiheit von Wissenschaft und Studium im Spannungsfeld von geistlicher und weltlicher Gewalt, die Ausbildung der ritterlich-höfischen Kultur und der städtischen Zivilisation. Als mit dem Terrain vollkommen vertrauter Führer zeigt er immer wieder Zusammenhänge und Querverbindungen auf, die in anderen Überblicksdarstellungen in den Hintergrund treten. Prägnanz und Präzision des Ausdrucks und die Anschaulichkeit der Beispiele fesseln die Aufmerksamkeit des Lesers.
Erst am Ende drängt sich die Frage auf, ob neben den geschlagenen Schneisen nicht auch andere Aspekte und Regionen zumindest einen Seitenblick verdient hätten: Das angelsächsische England gerät bei Ehlers nur im Zusammenhang mit der Ehe Ottos des Großen mit Edgith von Wessex in den Blick (zwar mit Karte und Stammtafel, aber nur mit einigen Zeilen im Text). Die Iberische Halbinsel kommt nicht vor. Die normannische Eroberung Englands wird ausführlich behandelt, der daraus erwachsende und die folgenden Jahrhunderte bestimmende Konflikt zwischen England und Frankreich bleibt jedoch ausgespart – und zwar auch dort, wo die Auseinandersetzung unmittelbare Auswirkungen auf die deutsche Geschichte hatte: Die Schlacht von Bouvines 1214 wird nicht erwähnt, Richard Löwenherz und Otto IV. treten als politische Akteure nicht auf.
Auch sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte, etwa die Entwicklung der Grundherrschaft und der Übergang vom Lehnsaufgebot zur Rekrutierung von Söldnerheeren, hätten ausführlichere Behandlung verdient. Viele dieser Lükken erklären sich allerdings aus der Entscheidung, das Mittelalter bereits zwischen 1200 und 1250 enden zu lassen, eine eigenwillige Setzung, die zumindest explizit gemacht und, wenn möglich, auch begründet hätte werden müssen. Mit Karten, Zeittafel, Stammtafeln und Abbildungen ausgestattet und flüssig geschrieben, ist der Band als einführende Lektüre durchaus geeignet, mehr noch aber als Erweiterung des Blicks für den mit den Nationalgeschichten der europäischen Reiche bereits vertrauten Leser.
Rezension: Eickels, Klaus van