Die alten Griechen haben offenbar Konjunktur als Erfolgsmenschen. Während Josiah Ober kürzlich wirtschaftliche und soziokulturelle Faktoren in den Vordergrund stellte (siehe die Rezension in DAMALS 2-2017, Seite 47), legt Edith Hall nun eine sehr viel konventionellere Kulturgeschichte vor, wie es sie vom Typ her immer wieder gab.
Doch die originelle Disposition funktioniert, weil sie Ordnung stiftet, ohne schematisch zu sein: Die Mentalität der Griechen sei durch zehn Eigenschaften bzw. Verhaltensmuster geprägt gewesen: Sie seien Seefahrer gewesen, misstrauisch gegenüber Autorität, individualistisch und wissbegierig, überdies offen für neue Ideen, humorvoll, vernarrt in Wettkämpfe, voll Bewunderung für talentierte Menschen, außergewöhnlich redegewandt und schließlich geradezu vergnügungssüchtig.
Diese Zehnzahl korrespondiert mit zehn chronologisch angeordneten Kapiteln, die von den Mykenern über die Formierung Griechenlands und die sogenannte Kolonisation in der archaischen Zeit zunächst zu den vier historisch wichtigsten Gruppierungen führen, nämlich den Ioniern, Athenern, Spartanern und Makedoniern. Im Hellenismus, einer Welt von „Gottkönigen und Bibliotheken“, bildete sich dann endgültig die Weltherrschaft des griechischen Geistes heraus, so dass die am Ende politisch Besiegten die Köpfe ihrer römischen Herren kolonisieren konnten.
Erst das Christentum, das jedoch vielfach griechisch geprägt war, bereitete „den alten Griechen mit ihrem bissigen Witz, den Götterstatuen, den wissbegierigen, eigenständigen Köpfen, der Philosophie und Liebe zum sinnlichen Vergnügen“ ein Ende. Mit der Frage, was Mentalität eigentlich sei, hält sich Hall nicht auf; zugleich entgeht sie aber der Falle völkerpsychologischer Verallgemeinerungen, indem sie, wenn möglich, die Entstehungsbedingungen der griechischen Eigenheiten skizziert und diese als gewachsene ethnokulturelle Identität auffasst.
Darstellerisch geschickt bündelt sie bestimmte Phänomene und Epochen immer wieder in Chiffren und Personen, so die Kolonisation im Symbol des Delphins, den Aufstieg Athens zum demokratischen Kultur- und Machtstaat in dem Tragödiendichter Aischylos oder den ruchlosen Machtinstinkt makedonischer Kriegsherren in ihrem letzten Nachfahren, dem pontischen König Mithridates VI. Eupator, der die Römer über eine ganze Generation hinweg in Atem hielt.
Hier und da gibt es einige kleinere historische Ungenauigkeiten, doch überwiegen die vielen klugen Einsichten; so wird die „lakonische“ Redeweise der Spartaner als rhetorische Eigenart, nicht etwa als Produkt einer minderwertigen geistigen Erziehung gedeutet. Besonders wertvoll erscheinen die Vignetten zu Gestalten der Spätzeit, etwa dem Arzt Galen oder dem einstigen Sklaven und späteren stoischen Philosophen Epiktet. Dessen Reputation in den Vereinigten Staaten von William Penn über Dale Carnegie bis hin zu Bill Clinton war zumindest dem Rezensenten vor der Lektüre unbekannt. In der Summe: eine unbedingt lesenswerte, überdies gut geschriebene Kulturgeschichte der antiken Hellenen für unsere Zeit.
Rezension: Prof. Dr. Uwe Walter