Wer sich die Galerie römischer Herrschaftsträger seit Augustus ansieht, kann sich nur wundern: Wie konnte das Riesenreich so lange Bestand haben, wenn es immer wieder von Potentaten beherrscht wurde, deren Geisteszustand kaum über jeden Zweifel erhaben war? Nirgends in der Geschichte stellten Chronisten die Diagnose „Caesarenwahnsinn“ so häufig wie in der römischen Kaiserzeit. Hatten die Römer einfach nur Pech, dass ihr Reich offensichtlich unter einer schier endlosen Reihe debiler Despoten ächzte?
So einfach war es natürlich nicht. Wenn für ein rundes Drittel aller Herrscher der ersten beiden Jahrhunderte der Prinzipatsgeschichte, also von Caligula bis Commodus, von Nero bis Elagabal, Kostproben tolldreisten Unfugs überliefert sind, müssen die Ursachen für den vermeintlich epidemischen Irrsinn tiefer liegen: in der besonderen sozialen Verfasstheit des römischen Kaiserreichs und in seinem politischen System, das offenbar ohne eine Prise Wahnsinn nicht auskam.
Mit dem Caesarenwahnsinn als Topos römischer Historiographie haben sich bereits etliche Studien auseinandergesetzt. Allerdings ist die aus einer Berliner Dissertation hervorgegangene Arbeit von Florian Sittig der erste Versuch, dem Phänomen durch eine systematische, indes nur die frühe Kaiserzeit in den Blick nehmende Untersuchung beizukommen.
Bevor es zur Sache geht, verortet Sittig seine Methode zwischen „Psychohistorie“ und „Diskursanalyse“ und schließt mit einem vorsichtigen Bekenntnis zu Foucault: Die Diagnose „Wahnsinn“ sei zwar nicht nur, aber eben auch ein Mittel des politischen Kampfes. Wenn Senatoren über die Psychopathologie kaiserlicher Personen sprechen, sieht Sittig darin „eine soziale Praktik, durch die der Vergangenheit ein gültiger Sinn für die Gegenwart abgerungen wird“.
Den analytischen Hauptteil des Buchs versteht man zum Glück auch ohne das überdimensionierte und in Teilen überflüssige Theoriekapitel. Hier entwirft Sittig sehr einprägsam eine Morphologie des wahnsinnigen Kaisers in all seinen Facetten – inklusive Fremdbestimmung durch Dritte, die verschiedenen Spielarten herrscherlicher Grausamkeit, die Angst des und vor dem Tyrannen, Verschwendungssucht und Geiz sowie schließlich der Hybris des entfesselten Monarchen.
Bei diesem Panoptikum des Aberwitzes profitiert Sittig selbstredend von der Erzählkunst seiner antiken Autoren, kann aber auch mit eigenen Zuspitzungen punkten, etwa wenn er den Wahnsinn plausibel als „dritten Weg“ zwischen Vergöttlichung und damnatio memoriae (demonstrative Tilgung des Angedenkens) eines verblichenen Kaisers etikettiert. Weise hält sich Sittig mit in jüngster Zeit beliebten Wertungen zurück, die überlieferten Wahnsinnstaten seien in Wirklichkeit Machtstrategeme der Herrscher gewesen, die von der Historiographie aber verkannt worden wären.
Überzeugend ist auch seine Schlussfolgerung, die Diagnose des Caesarenwahns sei ein Kunstgriff der römischen Elite gewesen, um wenigstens im Nachhinein einen Teil der ihnen durch die Etablierung des Prinzipats entglittenen Deutungshoheit zurückzugewinnen. Freilich hätte zu diesem Ergebnis womöglich auch ein schlankerer, um einige Redundanzen bereinigter Argumentationsgang geführt.
Rezension: Prof. Dr. Michael Sommer
Florian Sittig
Psychopathen in Purpur
Julisch-claudischer Caesarenwahnsinn und die Konstruktion historischer Realität
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018, 576 Seiten, € 84,–