Die Holocaust-Forschung hat in den letzten 25 Jahren, seit Raul Hilbergs monumentales Werk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ in erweiterter Form in Deutschland erschienen ist, eine enorme qualitative und quantitative Dimension erreicht. Die Notwendigkeit einer Gesamtdarstellung, die mehr als nur Einführungscharakter hat, ist daher offenkundig. Christian Gerlachs neuestes Buch bietet jedoch nicht nur eine Synthese der vorhandenen Forschung, sondern eine kluge Analyse der Verfolgung und Ermordung der Juden im gesamteuropäischen Kontext.
Der Band gliedert sich in drei Abschnitte. Im ersten Teil bedient Gerlach die Erwartungen an eine klassische Gesamtdarstellung, indem er chronologisch die Entwicklungslinien von Verfolgung und Vernichtung nachzeichnet. Im zweiten Teil widmet er sich den Logiken der Verfolgung, indem er der Rolle rassistischen und antijüdischen Denkens sowie den jeweiligen Zusammenhängen von Zwangsarbeit, Hungerpolitik, Ökonomie sowie Widerstandsbekämpfung mit der Verfolgung und Ermordung der Juden nachgeht.
Gerlach betont den prozesshaften Charakter des Holocaust, an dem zahlreiche verschiedene Akteure unterschiedlicher Länder, Ebenen und Institutionen mitgewirkt haben. Den Holocaust versteht er daher als ein partizipatorisches gesamtgesellschaftliches Unterfangen, das eng verzahnt war mit anderen Politikbereichen. Mit Hilfe seiner vergleichenden Perspektive legt er dies in einer bisher seltenen Deutlichkeit offen.
Im dritten und letzten Abschnitt wendet sich der Autor der europäischen Dimension zu, ohne dass die deutsche Verantwortung und Haupttäterschaft in Frage gestellt oder relativiert würde. Nachdrücklich macht Gerlach deutlich, dass von Marionettenregierungen, die von Berlin aus gelenkt wurden, keine Rede sein kann. Vielmehr verfolgten die Staaten und Regierungen in Europa, auch solche unter deutscher Besatzung, eigene nationale Interessen, was den Prozess der Isolierung und Ermordung der Juden bremsen oder beschleunigen konnte (siehe das Titelthema in DAMALS 8-2017).
Judenfeindliche Politik, das demonstriert Gerlach unter anderem am Beispiel antijüdischer Gesetzgebung, war beileibe nicht auf mit Deutschland verbündete oder deutsch besetzte Staaten beschränkt, sondern darüber hinaus und bisweilen auch schon vor 1933 weit verbreitet. Auch in den jeweiligen Gesellschaften gab es ein weitgefächertes Panorama antijüdischer Interessen und Aktionen, die in Berufsbeschränkungen, Boykotte oder mitunter auch Pogrome mündeten.
Unter den neuen Gesamtdarstellungen zum Holocaust ragt Gerlachs Buch heraus – durch seine bestechend scharfe und kluge Analyse, durch eine anregende Perspektiverweiterung sowie durch erhellende Vergleiche und treffsichere Fragen. Das Buch liefert so auch wichtige Impulse und leistet weit mehr als eine Synthese im herkömmlichen Sinn.
Rezension: Dr. Markus Roth